fast überall die Lehre von ehemaligen Landbrücken, in Amerika fast überall die Lehre von der Permanenz der Ozeanbecken und Kontinentalschollen.
Es ist wohl kein Zufall, daß die Permanenzlehre gerade in Amerika ihre zahlreichsten Vertreter zählt; die Geologie hat sich dort erst spät und darum gleichzeitig mit der Geophysik entwickelt, und dies mußte zur Folge haben, daß sie die Ergebnisse dieser Schwesterwissenschaft schneller und vollständiger aufnahm als in Europa. Sie kam gar nicht in Versuchung, die der Geophysik widersprechende Kontraktionslehre zu ihrer Grundannahme zu machen. Anders in Europa, wo die Geologie bereits eine lange Entwicklung hinter sich hatte, bevor die Geophysik zu ihren ersten Ergebnissen kam, ja wo sie ohne diese bereits zu einem großartigen Entwicklungsbild in Gestalt der Kontraktionstheorie gelangt war. Es ist durchaus verständlich, daß es vielen europäischen Forschern schwer fällt, sich von dieser Tradition völlig frei zu machen, und daß sie den Ergebnissen der Geophysik mit einem nie ganz versiegenden Mißtrauen gegenüberstehen.
Aber was ist nun die Wahrheit? Die Erde kann zu einer Zeit nur ein Antlitz gehabt haben. Gab es damals Landbrücken oder lagen die Kontinente wie heute durch breite Tiefseebecken getrennt? Es ist unmöglich, die Forderung nach den alten Landverbindungen abzulehnen, wenn wir nicht gänzlich darauf verzichten wollen, die Entwicklung des Lebens auf der Erde zu verstehen. Aber es ist ebenso unmöglich, sich den Gründen zu entziehen, mit denen die Vertreter der Permanenzlehre die versunkenen Zwischenkontinente ablehnen. Da bleibt offenbar nur eine Möglichkeit: es muß ein versteckter Fehler in den als selbstverständlich gemachten Voraussetzungen liegen.
Hier setzt die Verschiebungstheorie ein. Die sowohl bei den versunkenen Landbrücken wie bei der Permanenz zugrunde gelegte selbstverständliche Annahme, daß die relative Lage der Kontinentalschollen (von ihrer wechselnden Flachseebedeckung wird abgesehen) zueinander sich nie geändert habe, muß falsch sein. Die Kontinentalschollen müssen sich verschoben haben. Südamerika muß neben Afrika gelegen und mit diesem eine einheitliche Kontinentalscholle gebildet haben, die sich in der Kreidezeit in zwei Teile spaltete, die dann wie die Stücke einer geborstenen Eisscholle im Wasser im Laufe der Jahrmillionen immer weiter voneinander wichen. Die Ränder dieser beiden Schollen sind noch heute auffallend kongruent.
Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Braunschweig: Friedr. Vieweg & Sohn Akt.-Ges., 1929, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wegener_Kontinente_017.jpg&oldid=- (Version vom 17.8.2016)