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Seite:Die Gartenlaube (1853) 105.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853)

gewöhnlich noch für 9 Personen Platz ist, kann man sich dieses kolossalste Ungeheuer der modernen, praktischen Civilisation am Bequemsten und Comfortabelsten ansehen. Man genießt es aus der besten Vogelperspective und zeigt den Leuten und Läden und übrigen Fuhrwerken die Schuhsohlen. Wir fahren von einem Omnibus-Endpunkte ab, wollen wir einmal annehmen, und sehen rasch rechts und links, rück- und vorwärts. Wo der Endpunkt liegt, ist ganz gleichgültig, jedenfalls erblicken wir überall herum freie grüne Plätze mit den schönsten Perlenreihen von Villen und Cottages, mit Gärten, Bäumen, Epheugerank vorn und Gärten oder gar duftigen Parks dahinter. Vorn dichte Mauer mit schwerem Epheu bedeckt und eine recht sicher verschlossene, feste Thür mit zwei Knöpfen in je einer metallenen Höhlung. Auf dem einen Knopfe links steht mit Metallumschrift: „Servants“ (Dienstboten), auf dem rechts: „Visitors“ (Gäste). Es sind Klingelzüge für die zweierlei Menschenracen: Dienstboten und Leute, die es nicht sind. Wir werden über diese überall sichtbare sociale „Gliederung“ der verschiedenen Stände noch Manches zu sagen haben. Vom Omnibus oben siehst du über die Mauer weg in den Garten und zuweilen auch in die spiegelblanken Fenster hinein. Ach, welch ein schneeweißer, marmorner Weg führt nach der Thür und der Treppe! Kein Fleckchen, kein Stäubchen! Auf beiden Seiten der duftigste, saftigste Rasen, den man je in der Welt sehen kann, innen dieses frische, unbeschreiblich erquickende Grün, Winter und Sommer. Dazwischen dunkellaubige Stauden und Bäume, jedenfalls auch die dunkle Stechpalme mit dunkeln Blättern und weißgelben Rändern, die nie ihre Blätter verliert, und staudenartige Bäume mit hellen, gesprenkelten Blättern, die auch niemals kahlköpfig werden. Von solchen Villen und Cottages siehst du bald hier, bald da größere und kleinere Gruppen, dazwischen grüne Plätze mit Hügel und Thal, wo Pferde und Kühe und Schafe und Ziegen und Esel sich von ihren Strapazen erholen und nur aus Langeweile zuweilen einmal etwas Gras rupfen, denn sie haben zu Hause bessere Kost, wie man ihnen gleich auf den ersten Blick ansieht. Nach diesen Idyllen kommen wieder Cottages und Villen, auch stehen stolze, fest verschlossene Paläste dazwischen, aus denen prächtige Tapeten, kostbare Teppiche und Gemälde und schwere goldene und seidene Meubles hervorblitzen. Das ist Alles London. Nun kommen schon Läden, ganze Armeen von Läden mit Parade-Schaufenstern, auf der andern Seite vielleicht eine ungeheure, feste hohe Mauer mit Glasscherben oder spitzigen Eisenzacken oben, über die helle, grüne herrliche Bäume und Waldungen hervorragen. Am Ende der Mauer ein seltsam verschrobener Palast, dessen Baustyl uns ein Räthsel ist. Er gehört einem Lord und der ungeheure Park dahinter auch, und er wohnt blos im Sommer ein Paar Monate darin, während der „season“: er hat ja noch mehr und größere Parke im Lande drin, wo er jagt, fischt, angelt, die Zeitungen lies’t und sehr viel und sehr gut ißt und trinkt. – Nun kommt’s auf einmal dichter, enger, menschen- und wagen- und budenreicher. Vor dir, neben dir, hinter dir, überall wimmelt und tobt und rasselt es ohne Anfang und Ende. Die Straße, in der wir fahren, nimmt kein Ende und von allen Seiten, in allen Richtungen laufen krumme, enge, düstere Straßen hindurch in den willkürlichsten Richtungen, die alle ebenfalls kein Ende haben. Dazwischen sogar schon Straßen, wo man nicht hindurch zu kommen glaubt, wenn man gerade etwas breitschultrig ist, Straßen, die nichts vom Tageslichte wissen und fast stets in Gas flammen.

Auf einmal schnurgerade, ebenfalls endlose Straßen, wo die Häuser sich alle auf’s Haar ähnlich sehen! Wie lange Reihen von Rekruten stehen sie da, denen der Unterofficier „Richt’t euch! und Stillgestanden!“ geboten hat, so steif und stumm und düster und einförmig. Es sind Fabrikarbeiter-Städte, die eine Compagnie in einem Sommer hat aufbauen lassen für Arbeiter, Arme, die auf diese Weise verhältnißmäßig ungemein wohlfeil ein eigenes Haus bekamen. Manchmal sind auch uniformirte, kleine Gärtchen davor und dahinter, und doch kostet hier ein ganzes Haus nicht so viel, als in der City eine einfenstrige Stube hinten in einem Hofe drei Treppen hoch hinten hinaus.

Unser „Bus“ (die letzte Silbe ist für den Engländer lang genug) soll über einen Platz weg, in welchen 5–6–7 und mehrere Straßen münden, alle mit Menschen, Fuhrwerken aller Art, und besonders viel Omnibus überfüllt. Alle diese Straßen zeigen uns kaum eine Spur von Steinpflaster, so dicht sind sie mit Leben und Verkehr besäet und aus allen und in alle wollen unabsehbare Massen. Man muß das aber sehen, um’s zu glauben, wie sich das Alles stets macht, ohne daß Einem nur ein Haar gekrümmt wird. Wie hier die Wagenlenker ihre Sache verstehen, davon kann man sich kaum einen Begriff machen. Und wie es hier die Leute verstehen, vor und zwischen dichtgedrängten, eilenden Wagen aller Art durchzukommen, grenzt ebenfalls an’s Wunderbare. Das bindet und windet und lös’t sich stets so ruhig und kaltblütig, daß Keiner ein Wort dabei verliert. Unser Omnibus, so rasch er ist, macht sich doch durch die engste Oeffnung immer rasch wieder Luft und jagt dann dahin, als wären wir und er von Papier und hohl inwendig. Wir biegen bald links, bald rechts, und kommen jetzt in eine Straße, die ungemein still und ernst und vornehm aussieht. Alle Häuser fest verschlossen, kein Kopf, kein Blumentopf an dem todten Fenster; vorn überall Eisengitter und in der Mitte eine Brücke nach dem Thürklopfer. Sanft zwischen dem Gitter und dem Hause eine Tiefe, in der man wieder Fenster und Thüren sieht und einen besondern Eingang mit einer besondern Treppe von Außen hinunter. Da unten ist das Departement der Dienstboten und der Küche. Oben jedes Haus dicht zugeknöpft, verschlossen und vergittert. Hunderte solcher Straßen hinter einander gesehen, können einen gemüthlichen Menschen zur Verzweiflung und auf Selbstmordgedanken bringen.

Aber schon wird’s heiter. Die Straße ist zwar nicht ebenfalls endlos, aber eine von denen, wo auf beiden Seiten doppelter Jahrmarkt ist und zwar alle Tage, die Gott werden läßt, und die halbe Nacht hinzu. In den Häusern Laden bei Laden, immer einer prächtiger, wie der andere, und an den Trottoirs hin endlose Reihen von Penny-Sachen mit Leuten, die ununterbrochen Jeden anschreien und ihm wohl gar eine Viertelmeile nachlaufen, wenn er nicht finster genug aussah. Und davor noch auf beiden Seiten breite, wandernde Karren mit Aepfeln, Apfelsinen, Nüssen, Zuckerwerk und besonders viel mit Austern, Pfeffer- und Essigfläschchen. Die Auster ist hier ein Proletarieressen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_105.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
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