Verschiedene: Die Gartenlaube (1853) | |
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No. 12. | 1853. |
Die Taufe im Sterben.
Bis zu Ende der dreißiger Jahre kannte fast ganz Rom einen Mann und eine Frau von hohem Alter und ehrwürdigem Aussehen. Sie waren arm, schienen mit rührender Liebe an einander zu hangen und gingen fast immer Hand in Hand. Jeden Tag zu einer gewissen Stunde sah man sie so in die Peterskirche wandern, in welcher sie dann neben einander knieten und lange andächtig beteten. Sie trugen die gewöhnliche Kleidung, aber an ihrer braunen Gesichtsfarbe erkannte man leicht, daß sie nicht unter der Sonne Europas geboren waren. Auch in dem gastfreien Hause des Herrn v. Kästner, des Sohnes jener Lotte, die Goethe in seinem „Werther“ unsterblich gemacht hat, des geistreichen Kunstfreundes und Staatsmannes, um den sich immer ein Kreis von Landsleuten sammelte und den jetzt plötzlich der Tod hinweggerafft, sprach sich eines Abends eine so allgemeine Neugierde über jenes ehrwürdige Paar aus, daß alle Anwesenden sich um den Hausherrn drängten, als er bemerkte, er kenne die Geschichte der beiden Alten, da er eine Gelegenheit benutzt habe mit ihnen zu sprechen, und er wolle sie erzählen, wie sie ihm erzählt worden sei:
Zu Ende des vorigen Jahrhunderts erschien ein schon bejahrter Missionär in Paraguay, der eifrig die Sprache der Eingebornen erlernte und bald mehrere derselben zum Christenthume bekehrte. Die Häuptlinge aber, welche den langdauernden spanischen Druck noch nicht vergessen hatten, fürchteten, wenn der Glaube der Weißen unter ihnen sich weiter verbreite, aus ihren Hütten und Wäldern vertrieben zu werden und deshalb beschlossen sie den Tod des alten Geistlichen.
Ein junger Indianer wurde als Vollstrecker dieses Beschlusses erwählt. Melutiz, wie dieser Krieger hieß, hatte sich durch seinen Muth und seinen Haß gegen die Weißen ausgezeichnet. Mehrmals war er zur Hütte des Missionärs gegangen und hatte das Kreuz zerschlagen, weil dies ihn an das Unglück seines Volkes erinnerte. Die Häuptlinge konnten also keinen Geeigneteren wählen; trotzdem hielten sie es aber für nöthig, eine Belohnung auf seinen Gehorsam zu setzen. Melutiz liebte schon längst Velida, die Tochter eines der mächtigsten Häuptlinge, da er aber arm war, hatte ihm derselbe die Hand der Tochter stets verweigert. Jetzt sagte man ihm, er solle die Geliebte sein nennen können, wenn er den Kopf des Weißen bringe.
Nachdem Melutiz den Gebräuchen seines Volkes gemäß zur blutigen That sich vorbereitet hatte, machte er sich auf den Weg zu der Hütte des Missionärs, die auf einem Hügel am Saume eines Waldes stand. Es dunkelte bereits, obgleich die Sonne eben erst am Horizonte verschwunden war. Mit einemmal blieb der junge Indianer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1853). Leipzig: Ernst Keil, 1853, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1853)_121.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2020)