Verschiedene: Die Gartenlaube (1859) | |
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der an seiner Seite hängt, hat ihm der Kronsyndicus, hingerissen von seiner unbezähmbaren Leidenschaftlichkeit, in der Heftigkeit des Wortwechsels und des Streites um eine Grenzmarke in den Hals gestoßen. Wohl hat keines Menschen Auge gesehen, wessen Hand den Stahl geführt – wer kann als Zeuge gegen ihn auftreten, gegen ihn, den Kronsyndicus, dessen Arm schon Manchen niedergehalten und niedergeworfen hat? – und dennoch tritt schon ein Zeuge gegen ihn in seinem eigenen Herzen und Gewissen auf.
Gewissermaßen bildet dieser von des Künstlers Hand entworfene Ritt den Mittelpunkt alles dessen, was in den vier bis jetzt erschienenen Bänden des neuen Gutzkow’schen Romans: „der Zauberer von Rom“ erzählt wird, der, wie die „Ritter vom Geiste“ desselben Verfassers, über die gewöhnlichen Grenzen einer Erzählung hinausgeht und mit dem Zwecke der Dichtung den verbindet, Denkwürdigkeiten der Zeit zu geben.
Es ist des Dichters Streben, in diesem neuen Romane das katholische Leben, das Streben der Kirche, die Zaubermacht auf dem Capitole Roms darzustellen, den noch unbeendeten Streit zwischen den „Welfen und Ghibellinen“, und wir staunen über die Tiefe und Klarheit, mit welcher er uns in das Leben und den Geist der katholischen Kirche einführt, wie er ihre Größe und ihre Schwäche schildert und letztere gerade aus dem Poetischen in ihren Erscheinungen entwickelt. – Die noch nicht zur Hälfte beendete Dichtung gestattet uns noch kein vollständiges Urtheil, wir können nur auf das uns bereits Gegebene schauen, aber das berechtigt uns in jeder Weise anzunehmen, daß wir in dem „Zauberer von Rom“ ein Werk erhalten werden, das, wie die „Ritter vom Geiste“, noch eine Zierde unserer Literatur werden wird, wenn auch der erste Band nicht mit der gewohnten Gutzkow’schen Präcision geschrieben ist.
Schon ein Pirschgang an und für sich, und wenn es auf einen Rehbock wäre, ist ein wonniges Gefühl, und mit der schußfertigen Büchse im Arm, das Auge überall, das Ohr auch dem geringsten fremden Laut horchend, der eigne Fuß ängstlich jedes Geräusch vermeidend, und fortwährend dabei auf Wind und Deckung achtend, vergißt der Jäger in der Zeit die Welt, und hat nur Sinn und Gedanken auf den einen Punkt gerichtet – auf seine Jagd. Und nun gar ein Pirschgang auf Gemsen!
Die wundervollen Berge um uns her, die Mühseligkeit, ja oft selbst Gefahr der Jagd, das scheue, mit den schärfsten Sinnen begabte Wild zum Ziel, das Alles erhöht nur und mehrt den Reiz solcher Lust, ja die Erinnerung daran ist fast so schön, als der Moment selber – und wie viele solcher Erinnerungen trage ich im Herzen!
Und kann der Nichjäger sich in solche Bergesfreude hineindenken? – Ich will versuchen, ob es möglich ist, ihm einen richtigen Begriff davon zu geben, und konnte er nicht Theil an der Jagd, soll er doch Theil an der Erinnerung nehmen.
Es war im Herbst vorigen Jahres, am 21. October, und ich selber mit einem anderen Schützen von der Jagdgesellschaft in der Riß detachirt worden, die Scharnitzberge auf eigene Hand zu bejagen.
Schon am ersten Tag dort, als wir nach verschiedenen Richtungen hin von dem kleinen Ort Scharnitz aus zu unserem Lager in den Bergen aufbrachen, gelang es mir einen dreijährigen Bock zu schießen. Die nächsten Tage dagegen durchstreifte ich vergebens mit einem der dort stationirten Jäger die Berge. Wir sahen wohl hie und da an den steilen Wänden einzelne Böcke, aber es war nicht möglich an sie hinan zu kommen, und unstäter Wind, der einsetzte, machte endlich sogar jede Jagd vergeblich.
Bei keiner Jagd der Welt hängt mehr vom Wind ab, als gerade bei der auf Gemsen, denn hat das scheue Wild die geringste Witterung vom Jäger bekommen, so mag er nur ruhig seine Büchse schultern und heimkehren. Die Gems nimmt nämlich ohne den geringsten Verzug eine Stellung ein, von der aus sie das ganze benachbarte Terrain vollkommen überschauen kann, und ist ihr dieses nicht offen genug, sind besonders Felsvorsprünge und Schluchten in der Nähe, durch die gedeckt ein Feind doch möglicher Weise anschleichen könnte, so verläßt sie die bedrohte Nachbarschaft ganz und steigt in irgend eine unzugängliche Wand hinein, in die ihr kein Jäger folgen kann.
Bei gutem Wetter weht nun in den Bergen ein vollkommen regelmäßiger Luftzug, und zwar im Sonnenschein die Berge grad hinauf, im Schatten aber die Hänge hinab, und man kann sich beim Pirschen vollkommen gut und sicher darauf verlassen. Ist das Wetter dagegen unbeständig, so fackelt auch der Wind, weht bald das Thal herauf, bald hinab, bald an den Hängen hin, bald her, und ein Anpirschen wird zur Unmöglichkeit.
Wir sahen am 20. ein Rudel Gemsen und wollten, da es mit der Pirsche nichts war, wenigstens versuchen, ob wir sie treiben könnten, aber der unten gebliebene Jäger, der sie beobachten sollte, während ich dem mir bestimmten Stand zustieg, gab bald das verabredete Zeichen zur Rückkehr. Noch wenigstens eine Stunde Weges von ihnen entfernt, hatten die Gemsen schon durch den umschlagenden Luftzug Wind von mir bekommen und waren unruhig geworden, und es blieb deshalb das Beste, sie nicht weiter zu stören. Einen Erfolg konnten wir uns doch nicht davon versprechen. An dem Tag ließ sich deshalb nichts weiter vornehmen, und wir gingen in unsere Almhütte, die wir gemeinsam bewohnten.
Am Tag in einer Almhütte liegen, während man draußen nach Gemsen jagen könnte, – es ist das ein trauriger Gedanke, und die Hütte selber bot eben nicht viel Anziehendes, darüber die versäumte Jagd zu vergessen. Das Innere derselben war rauchgeschwärzt, verräucherte Heiligenbilder mit hie und da einem Schmuck zerknitterter und verblichener künstlicher Blumen hingen an den Wänden. Der Boden bestand aus hartgestampftem, jetzt aber feuchtem Lehm; das eine kleine Fenster hatte so trübe Scheiben, daß es sich hartnäckig weigerte, auch die geringsten Umrisse der draußen liegenden Landschaft zu verrathen, und der in der Milchkammer stehende eiserne Blechofen sandte den Qualm in dicken Stößen durch das niedrige Gemach.
„Hol der Henker den Wind!“ dachte ich und warf mich auf die in der Ecke bereitete Heustätte, daß eine wahre Wolke von Staub um mich her aufstieg. – Schlechtes Wetter in den Alpen – es gibt nichts Trübseligeres.
Die Nacht heulte der Sturm nur so durch das offene und ziemlich hoch gelegene Thal, aber gegen Morgen wurde es ruhiger, und noch vor Tag kam der eine Jäger, der Franzel, herein und meldete, draußen sei das schönste Wetter, und wir möchten aufbrechen, sobald wir wollten.
Das war eine Freudenbotschaft – in wenigen Minuten waren wir angekleidet, ein Kaffee und Schmarren wurde rasch gekocht und verzehrt, und mit einem kleinen Frühstücksvorrath und einem Schluck Branntwein im Bergsack standen wir fast noch eine Stunde vor Sonnenaufgang im Freien draußen, unsere Jagd zu beginnen.
Vorher genommener Verabredung nach brachen wir Beiden, je mit einem Jäger, nach verschiedenen Seiten auf, unser Glück heute getrennt zu versuchen, und ich wanderte mit meinem Begleiter eine Strecke das Thal hinab, um etwa eine halbe Stunde von dort entfernt einen Berghang zu erreichen, an dem wir gestern Gemsen gesehen hatten. Das Wetter war heute still und ruhig, und wenn wir sie noch an derselben Stelle oder doch in nächster Nachbarschaft trafen, konnten wir uns ohne große Schwierigkeit an sie anschleichen.
Diese Schlußfolgerung war ganz richtig – nur standen die Gemsen nicht auf dem früheren Terrain, sondern hatten sich unglückseliger Weise auf die höchste Spitze des Gebirgsrückens hinaufgezogen, wo ein Anpirschen zur Unmöglichkeit wurde. Ehe wir nur die Hälfte der Höhe hätten ersteigen können, war die Sonne voll heraus; die Luft zog dann aufwärts, und wir wären den Augenblick verrathen gewesen. Ueberdies sind die Scharnitzberge vollkommen kahl, nur ziemlich tief von einem Laatschengürtel umgeben und dabei theils zerklüftet, theils von Reißen (Geröllhänge) angefüllt. Das aber blieb sich hier gleich und der Luftzug die Hauptsache, dem wir nun einmal nicht ausweichen konnten.
In solchen Fällen, wo eine Pirsche zur Unmöglichkeit wird, bleibt nichts Anderes übrig, als das Wild zu riegeln, und das
Verschiedene: Die Gartenlaube (1859). Leipzig: Ernst Keil, 1859, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1859)_487.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2023)