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Seite:Die Gartenlaube (1860) 045.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

So geht’s hinauf, heidi! juhu! immer höher hinauf,

In die Berge hinein, in das liebe Land,
In der Berge dunkelschattige Wand!
In die Berge hinein, in die schwarze Schlucht,
Wo der Waldbach toset in wilder Flucht!
Hinauf zu der Matten warm duftigem Grün,
Wo die rothen Alpenrosen blühn!

so ruft Carl Morell, der fröhliche Alpensänger, begeistert aus.

Das ist die freundliche Seite eines Alpfahrt-Bildes. Es gibt aber auch Heerden-Expeditionen, namentlich im Hochgebirge, bei denen es nicht nur mühseliger Momente in Hülle und Fülle gibt, sondern bei denen das Leben der Heerde wie der Hirten auf’s Spiel gesetzt werden muß. Dies ist vornehmlich dann der Fall, wenn große Firnfelder oder schrundige, durch zahlreiche Querspalten zerrissene Gletscher zu überschreiten sind, um zu den in stiller, verborgener Einöde der Eiswüsten gelegenen Alpweiden zu gelangen. Da ist’s denn in der Regel der Fall, daß, ausschließlich zu diesem Zweck, am Tage vor der Auf- und Abfahrt des Viehes mit Hülfe der Aexte und durch improvisirte Breterbrücken ein grober Weg erstellt wird. Durch Instinct geleitet, sträubt sich dann die Heerde, das fremde, unheimliche Element, den glatten glasigen Eisboden, zu betreten, und mit Stricken muß in der Regel die Widerspenstigkeit überwunden werden. Dies ist z. B. am Mauvais pas auf dem Mer de glace in Chamouny-Thal der Fall. – Oder es kommt vor, daß die Sennen, um einen näheren Weg zu nehmen, über jäh absinkende Schneefelder hinab müssen. Dann werden abenteuerliche Rutschpartieen ausgeführt; zwei Alpenknechte packen je eine Kuh am Schwanz und bei den Hörnern und suchen so das Thier zum Gleiten zu bringen, worauf sie dann pfeilschnell mit Locomotiven-Geschwindigkeit über den Abhang hinabjagen. Ja, es gibt sogar Alpen, zu denen das Vieh vor noch nicht gar langer Zeit an Seilen über vertikale Felsenwände hinabgelassen wurde.

Schmucklos, einfach, wie ein Wurf aus freier Hand, traulich und einladend, wie ein herziger Gruß des Willkommens auf den Matten, liegt das schützende Dach der stillen Alpenhütte da. Der ganze Bau ist meist aus Holz zusammengefügt, ganz Blockhausconstruction, von der vieljährigen Wirkung der Sonnenstrahlen tief kastanienbraun gebrannt; nur der mannshohe Unterbau ist grobes Steingefüge, oft Mauerwerk wie aus vorculturlichen Zeiten. Ueber dem einstöckigen und kunstlosen Erdgeschoß, das seiner naiven ungesuchten Natürlichkeit halber ganz mit der in ihrer Einfachheit majestätischen und erhabenen Gebirgswelt harmonirt, ruht das flache silbergrau glänzende Schindeldach; es ist mit schweren Steinen belastet, damit der wilde Föhn, des Aelplers „ältester Landsmann“, wenn er aus Süden einherbraust und, über die Felsenklippen hernieder stürzend, sich in die Bergmulden einbohrt, die Friedenshütte unangetastet lasse. – Dies also ist des Sennen und seiner Gehülfen Asyl während der Sommermonate. In den Alpen, wo gute Ordnung herrscht und für das Vieh sorgliche Einrichtungen getroffen sind, liegen nahe bei der Sennhütte Ställe oder Gaden, wo die Heerde während des heißen Mittags und der frostigen Nächte oder beim Unwetter gesichert steht. Nicht überall hat die praktische Vernunft diese Nothwendigkeit erkannt und ihr entsprochen; es gibt noch außerordentlich viele Alpen, auf denen das Vieh in Wind und Wetter, bei Hitze und Kälte im Freien verbleiben muß; – die angestammte Lässigkeit der Thalleute thürmt unüberwindbare Hindernisse gegen jeden rationellen Fortschritt auf. Da, wo es thunlich, wird die Sennhütte an einen Felsenklotz gebaut oder sogar zum Theil unter denselben hineingeschoben, um im Fond einen recht kühlen Platz für den Milchkeller zu gewinnen. Rinnt nun gar eisigkaltes, von den Schneemagazinen abgeschmolzenes Wasser in der Nähe, so leitet es der Aelpler gern durch diesen Raum, um die gesäuerte Luft abzuleiten und dagegen frische, dem Wasser entströmende Lufttheilchen seinem Milchgemache zuzuführen. Das Innere einer jeden Sennhütte ist eine nüchterne, prosaische Demonstration gegen allen Daphnis- und Chloe-Schwindel, eine kräftig corrigirende Strahldouche auf jedes durch sublime arkadische Schäfer-Phantasieen erhitzte Gehirn. Reinlichkeit und Accuratesse sind allenthalben nichts weniger als hervorragende Attribute viehzüchtender Völker, und der Schweizer Aelpler bestrebt sich durchaus nicht, hierin als Ausnahme zu erscheinen, wie der Vers im Appenzeller Ruggüßler (einem landeseigenthümlichen Hirtenliede in holprigen Reimen, aber mit einer um so angenehmeren, weicheren Weise, die zwischen den Worten aus dem Gaumen bisweilen üppig spielt) lachenden Mundes mit den Worten bekennt:

„Mi Schätzli isch e Höffertli, [1]
ond het e bochsigs Löffeli, [2]
e bochsigs Löffeli ohn’ en Stil;
ond schmotzig Senna geds gad vil.“ [3]

Denn da droben auf der Alp ist der leuchtende, farbenheitere Festtagsanzug, der das Auge bei der Auffahrt so anregend ergötzte, verschwunden; eine weite, derbleinene Hose, die in allen Schattirungen der Kuhstallbronze spielt und ein ditto Futterhemd (d. h. blousenähnliche Jacke ohne Schlitz auf der Brust) bilden mit den Holzschuhen und dem enganliegenden Lederkäppchen die ganze Bekleidung. Dieser entspricht nun auch völlig das Innere der Sennhütte. Die Entree führt sogleich in die centralisirten Gemächer; da ist nach altgermanischer Sitte Wohnzimmer und Küche, Speisesaal und Boudoir zu einem Gesammt-Appartement vereiniget, und man kann im buchstäblichsten Sinne des Wortes am „gastlichen Heerde“ weilen. Letzterer und das über ihm aufgehängte große kupferne „Milchkessi“ nehmen den meisten Raum ein und bekunden dadurch ihre hohe Bedeutsamkeit. Hier ist die Stelle, wo der chemische Scheidungsproceß vorgenommen wird, der die erste konsistente Grundlage zu den delicaten „Schweizerkäsen“ legt. Es ist aber kein Heerd, wie man ihn allenfalls drunten im Flachlande beim behäbigen Bauer oder in der noch altmodisch eingerichteten Küche des Kleinstädtler-Bürgers antrifft, – o bewahre! solche Weitläufigkeiten würden dem Sennen als Luxus gelten. Ein schwarzes verkohltes Loch im Winkel mit Steinen eingefaßt, ohne Kamin oder irgendwelche schlotähnliche Einrichtung, daneben ein senkrechtstehender, oben und unten eingezapfter und deshalb drehbarer Baum mit langem eisernen Arm (der s. g. Turner), an den der Milchkessel gehangen wird, – dies ist die ganze culinarische Einrichtung. Der Rauch mag sehen, wo er einen Ausweg findet, – es steht ihm frei, durch Ritzen und Spalten unterm Dach oder zur Thür hinauszuspazieren; darum ist auch das Innere jeder Sennhütte ziemlich angeraucht. Die feine, dünne, weniger von Stoff-Atomen gesättigte Alpenluft consumirt aber die aus dem Holze sich entwickelnden Dämpfe so auffallend rasch, daß letztere nicht einmal die Respirationsorgane wesentlich belästigen. Schaut man sich nach den weiteren Comforts um, so bestehen dieselben höchstens in einem Klapptisch, der in Angeln an der Wand befestiget ist und der Raumersparniß halber nach dem Gebrauch an die Wand zurückgelegt wird, – ferner vielleicht in einer Bank oder, was dieselben Dienste leistet, dem Hackklotz – und schließlich in der mittelst einer mit Wildheu gestopften Matratze, vulgo Laubsack, ausgerüsteten Schlafstätte, der ungestörten Heimath einer Legion von alpinen Springinsfelden. Alles Uebrige, was drinnen noch liegt und steht, ist Handgeräthe des Sennen zur Darstellung der Milchproducte.

In jeder einigermaßen großen Alpwirthschaft der östlichen Schweiz (also Graubündens, Glarus, des St. Galler Oberlandes) und im Wallis hausen gewöhnlich drei Aelpler und ein Knabe. Weiber sind in der Schweiz nie auf den Alpen (wie dies im Tyrol und baierschen Oberland, – die „Almerin“ – der Fall ist); nur in einigen Walliser Seitenthälern kommt es vor, daß die Frauen da droben wirthschaften. Major domus ist der Senn; entweder selbst Heerdenbesitzer oder Beauftragter einer Nachbarschaft, führt er das Regiment, besorgt die Käserei sammt deren Magazine und führt das Rechnungswesen. Sein Beistand und Handlanger ist der „Sennbub, Handbub, Schorrbueb“, im Wallis der „Pato“ genannt; er hat die Gefäße zu reinigen und jede Beihülfe zu leisten, deren der Senn bedarf, ist aber nicht jederzeit blos ein Knabe von 14 oder 15 Jahren, sondern es gibt Buben, die 30 und mehr Jahre alt sind. Die Vermittelungsperson zwischen Berg und Thal, der Käsemercurius und Heimathstelegraph ist der „Zusenn“, welcher alle Alpenproducte hinab und Holz sammt Victualien herauf zu schaffen hat; der Walliser Patois nennt ihn bezeichnend „Lamieiy (l’ami)“.

Der eigentliche Hirt endlich ist der „Chüener, Gaumer oder Rinderer“, im Wallis „Vigly“ (vigilantia, die Wachsamkeit); seine ausschließliche Obliegenheit ist’s, das „Senntem“ auszutreiben und immer zusammen zu halten. An sicheren Orten, wo kein Vieh stürzen und kein Raubthier der Heerde schaden kann, liegt er bei gutem Wetter halbe Tage lang am Boden, schaut in die herrliche Landschaft hinaus, jodelt nach Herzenslust in die Thäler hinab und ist selig im träumerischen Nichtsthun. Gilt’s aber das Vieh an

  1. Hochfahrendes Wesen.
  2. Buchsbaumener Löffel.
  3. Gibts grad viel.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_045.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)
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