verschiedene: Die Gartenlaube (1862) | |
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Herzen. Wir aber betraten nun den fußbreiten Grat, von dessen einer Seite sich ein schwindelnder Abgrund hinabstürzte, während sich auf der andern Seite eine Schneefläche in unabsehbarer Weite hinabsenkte, auf welcher auch der beste mit Nägeln beschlagene Stiefel keine Spur zurückließ. Die Anforderungen an unser ruhiges Auge und unsere Geschicklichkeit waren daher nicht gering. Bald mußten wir von einem Felsblock zum andern springen, der uns kaum den nöthigen Platz zum Stehen gewährte, bald, wo der Sprung zu gewagt schien, um den Fels auf schmaler Kante herumkriechen. Glitt nun der Fuß auf solcher zackigen Kante aus, so hing man über dem etwa 1000 Fuß tiefen Abgrunde und man konnte dann nur durch das Anziehen der Leinen von dem Vorder- und Hintermanne wieder auf die Beine gebracht werden. Bald auch erreichte man einen Fels nur auf schwacher Schneebrücke, oder wir standen gar vor einem Block, den wir nur schwebend hinaufgehißt werden konnten.
Welche Anstrengungen das Klettern erforderte und wie langsam wir trotzdem vorwärts kamen, wird man sich unschwer vorstellen können. Doch wir achteten keiner Mühe, wir achteten keiner Gefahr, geschoben und schiebend, selbst gezogen und selbst ziehend, drängten wir vorwärts, wie die Wilden, nur vorwärts, vorwärts. Endlich wurde unsere verzweifelte Arbeit belohnt. Nach zweistündigem Ringen wurden wir auf die letzte und höchste Felsplatte gehißt, nachdem wir schon vorher unsere Stöcke in eine Spalte gesteckt hatten, um im Nothfall auf allen Vieren fortkriechen zu können. Ich für meine Person fühlte mich zwar auch dann noch auf den beiden Füßen sicherer, als in gebückter Stellung, da ich keinen Schwindel kannte. Andere aber zogen die Hülfe der Hände vor, und Einzelne, wie mein Stubengefährte Mr. C., mußten sogar mit verbundenen Augen von den Führern über die gefährlichsten Stellen geschleppt werden. Wie dem aber auch war, endlich kamen wir oben, 14,284 Fuß über der Meeresfläche, mit Freudengejubel und Hurrahruf an. Zum Zeichen des gewonnenen Sieges und zum schwachen Signal für die Freunde, welche unsern Weg mit Fernröhren zu verfolgen versprochen hatten, zogen wir die Schnupftücher der Gesellschaft als Fahne an dem einzigen mitgenommenen Stock auf. Leider wurde dieses Signal der Entfernung wegen nicht wahrgenommen. Den Gipfel des Monterosa bilden zwei schräg aneinander stoßende Felsplatten, deren Bestandtheile, meinen schwachen geognostischen Kenntnissen nach, Gneis und Granit zu sein scheinen. Ein Stück von der äußersten Kante wurde sofort zum dauernden Andenken an diese Stunde abgeschlagen. In der durch jene beiden Platten gebildeten Vertiefung lagerten wir uns dann, um eine Uebersicht über die Pygmäenwelt unter uns zu erhalten. Obgleich ich eine Aussicht in ganz anderer Art erwartet hatte, als sie geringere Berghöhen darbieten, so war ich doch von der Eigenthümlichkeit des Schauspieles vollkommen überrascht. Das Panorama, oder besser gesagt die große Reliefkarte zu unseren Füßen erstreckte sich nach Norden über die ganze Schweiz bis zu den schwäbischen Alpen, nach Osten bis zum Splügen und Bernina. Im Westen sah man über die Savoyer Gebirge in das französische Rhonethal, und südlich lag die ganze lombardische Ebene ausgebreitet. Ueber letzterer lagerte aber in bedeutender Tiefe ein endloses wogendes Wolkenmeer, dessen Spiel im treibenden Winde zum Entzücken schön war, uns dagegen nur auf Augenblicke einen grünen Fleck Landes erspähen ließ. Desto klarer war die Schweizer Seite; denn wenige kleine Wolken konnten bei dem unermeßlichen Gesichtskreise nicht in Anrechnung kommen. Zwei hellschimmernde Punkte im Nordwesten erkannten wir deutlich als den Neuschateller und den Bieler See, während die näheren Seen uns durch die Perspective verdeckt waren. Einen ganz sonderbaren Eindruck aber machte es, daß die Berge, die vielleicht nur um tausend Fuß niedriger als unser Standpunkt waren, so unverhältnißmäßig klein erschienen, daß ich zuerst vergeblich nach dem Matterhorn suchte, diesem majestätischen Kegel, der sich dreitausend Fuß in beinah verticaler Höhe von dem benachbarten Bergrücken erhebt. Nur der Berg, der wirklich Herr über den Monterosa ist, der Montblanc, machte auch jetzt noch seine ganze Ueberlegenheit geltend. Die gelbliche Farbe, welche seine Schneefelder von Weitem zu haben scheinen, und die isolirte Lage seiner Gebirgsmassen waren allerdings nicht wenig geeignet, den Eindruck, welchen er machte, zu erhöhen. Doch verloren auch die einzelnen Spitzen an Bedeutung, so traten die verschiedenen Bergketten um so deutlicher hervor, links die Walliser Alpen, zu unseren Füßen hinter den Mischabel-Hörnern der mächtige Zug der Berner Alpen. Wollte ich sie alle nennen mit ihren Firnen und ihren Gletschern, wollte ich ihre breiten Eisgürtel verfolgen in allen ihren Verzweigungen, so würde wohl sonder Mühe eine Orographie der Schweiz entstehen. Nur Das will ich daher bemerken, daß mir nie der Zusammenhang der Alpenketten deutlicher geworden ist, als auf dem Monterosa, und daß der unbeschreiblichen Großartigkeit des Panorama nichts fehlte, als Wasser und Thäler. Denn an Flüssen sahen wir nur die blaukrystallisirten, eisigen Ströme der Gletscher, von Thälern erspähten wir nur das wilde, zerklüftete Thal der Visp (von den Schweizern Vieschp genannt) und südöstlich das Macugnagathal oder Val Anzasca, ein kleiner, lieblicher Streifen in der trostlosen, starren Alpenwelt.
Während wir in dem Anblick dieser seltenen, imponirenden Scenerie schwelgten, wurde der Stärkung des Leibes nicht vergessen. Denn lange durfte unser Aufenthalt auf der luftigen Höhe nicht währen, wollten wir nicht zu Eissäulen gefrieren. Hatten wir auch unter den Anstrengungen des Kletterns keine Wirkung von der niedrigen Temperatur gefühlt, so machte sich die ewige Schneeregion jetzt um so empfindlicher bemerkbar. Das Thermometer war bis auf 14 Grad Réaumur gefallen, und die Felsplatten um uns strahlten eine so strenge Kälte aus, daß, als ich mit der vom Schnee genäßten Hand mich erheben wollte, dies nur mit Zurücklassen der Haut einiger Fingerspitzen gelang, und mir die Hände überhaupt in Folge der öfteren Berührung des Gesteins Monate lang stumpf und erfroren blieben. Fröstelnd hüllten wir uns in die Plaids und zwangen uns mit vieler Mühe einige Schluck erwärmenden Cognacs ein. Denn ließ auch die dünne Luft bei Keinem unserer Gesellschaft das Blut zu Nase, Augen und Ohren heraustreten, was ich eigentlich mit Bestimmtheit erwartet hatte, so fehlte es doch nicht an Symptomen, daß wir uns in außergewöhnlicher Höhe über dem Meeresspiegel befanden. Der Puls ging schnell, in leisen, stechenden Schlägen, Herz und Lungen arbeiteten heftig. Das Haupt unserer Gesellschaft, der würdige Geistliche, lag sogar in dem jammervollsten Zustande auf dem Schneefelde und mußte, statt aller erwarteten Genüsse, den Göttern des Landes und der Meere qualvolle Opfer spenden. Der Himmel, der im Thale im herrlichsten Blau geprangt hatte, erschien hier dunkel, grauschwarz, die Sonne verlor für unsere Augen einen Theil ihres blendenden Strahlenglanzes. Nachdem wir daher unsere Visitenkarten in eine leere Flasche gethan und diese unter den Felsplatten als Denkmal für kommende Geschlechter verwahrt hatten, ähnlich dem Seefahrer, von dessen Erlebnissen an fremdem Strand gespülte Flaschen erzählen, wurde nach halbstündigem Aufenthalte ein letzter Blick auf die unvergeßliche Alpenlandschaft geworfen und sodann zum Aufbruch geschritten.
Wiederum wurden die Ketten formirt, und dann ging es unter fortwährendem Rufe: „doucement! attention!“ vorwärts. Hatten wir schon beim Heraufsteigen Blut geschwitzt, so erschienen die bisherigen Anstrengungen im Vergleich zu den Gefahren des Herunterkletterns wie leichtes Kinderspiel. Ich gestehe, daß mich im ersten Momente eine unheimliche Furcht beschlich. Aber die Angst wich schnell der Aufmerksamkeit, welche jeder Schritt, jede Bewegung erforderte. Oft mußte man direct in den Abgrund springen, um durch das gleichzeitige Anziehen der Stricke vorn und hinten in der Diagonale auf die richtige Stelle hinüberbugsirt zu werden. Oft glitten zwei, drei auf der abschüssigen Eiskruste aus, und es kostete dann unsägliche Arbeit, sie wieder in die Höhe zu bringen. Einmal hingen in unserer Kette sechs hinter mir zu gleicher Zeit über dem Abgrund, nur ich und meine zwei Vordermänner standen noch fest. Krampfhaft hielt ich mit dem einen Arm den vor mir stehenden, glücklicherweise baumstarken Amerikaner umschlungen, während ich mit dem rechten meinen nächsten Hintermann zu packen versuchte. Aber zweimal stürzte dieser in dem Augenblick, wo er meiner Hülfe nicht mehr zu bedürfen schien, wieder auf die spiegelglatte Fläche hin, so daß sich unsere Eingeweide unter dem Druck der straff angespannten Seile wanden und wir Anderen bei dem unerwarteten Ruck, welchen der eine Sturz verursachte, beinah den letzten Halt verloren. Durch Aufbieten der letzten Kräfte kamen wir endlich wieder in Ordnung und gelangten auch endlich zum Fuße des gefährlichen Kegels, wo unsere hart mitgenommenen Magen von den Leinen befreit wurden und die Nachzügler sich während einer kleinen Rast sammeln konnten. Aber der Versuch, während dieses Aufenthaltes die müden Lebensgeister
verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_103.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)