Verschiedene: Die Gartenlaube (1863) | |
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weiß es, welche sonderbare Verkettung und Verwirrung von Gedanken das Lachen in ihm erzeugte. Die Tante wurde von einem Grauen erfaßt, sie errieth, was geschehen sei, und sie mußte weiter. Sie verließ den Irren und ging die Treppe hinunter, zu dem unten an der Halle belegenen Zimmer ihres Bruders Franz.
Dort war der Oberst der französischen Carabiniers an dem Lager seines auf den Tod verwundeten Sohnes. Die Tante hatte das Richtige errathen. Sie erfuhr es später mit allen seinen Einzelnheiten von dem Irren selbst.
Der Irre hatte sich ängstlich in sein Zimmer eingeschlossen, als draußen am Hause der Kampf begann. Die alte Magd Christine hatte ihm kurz vorher gesagt, die Franzosen schössen die westphälischen Edelleute todt. Aber als der Kampf zu Ende war, als er gar kein Schießen mehr vernahm, und nur in dem dunklen Gange hin und her gehen hörte, da überwog die Neugierde seine Furcht; er mußte wissen, was im Hause geschah. Er lauschte, an seiner Thür und vor derselben. In dem Gange brannte, wie gewöhnlich, eine Lampe. Er sah die Frau des Fremden mit der alten Christine die Treppe hinuntergehen, während der Fremde selbst eben im Zimmer blieb, und wurde neugieriger, wohin sie gehen mochte? Ein eiliger Schritt kam leise die Treppe herauf. Er erkannte den Kutscher des Fremden. Der Mensch ging in das Zimmer zu seinem Herrn. Der Irre schlich ihm nach und lauschte an der Thür.
„Herr Commandant,“ hörte er den Kutscher zu seinem Herrn sagen, „die Franzosen haben unten im Stall Ihre Pferde erkannt.“
„Teufel!“ fluchte entsetzt der Commandant.
„Sie fanden dann auch Ihren Wagen.“
„Und dann?“
„Sie sprachen von Desertiren und Uebergehen zu dem Adjutanten des Obersten, um ihm Anzeige zu machen.“
Noch einmal fluchte der Commandant. Dann sagte er zu dem Kutscher: „Geh! Sage keinem Menschen etwas. Achte auf Alles. Fällt etwas vor, so theilst Du es mir mit.“
Der Kutscher ging, und der Irre lauschte wieder an seiner Thür. Die Frau des Commandanten kehrte zurück. Der Irre folgte auch ihr und horchte wieder an dem Zimmer.
„Friedrich,“ hörte er die Frau sagen, „ich komme von der Mutter des Unglücklichen.“
„Was wollte sie von Dir?“
„Sie hat mich beschworen, Dich vor einem zweiten Morde zu bewahren.“
„Was wußte sie davon?“
„Sie muß Alles wissen. Auch dieser zweite Mord gehe ihr Haus an.“
Der Commandant schien aufzufahren. „Wie? Ihr Haus? – Welcher Gedanke! – Ich bin gerettet.“
„Was sprichst Du, Friedrich?“
„Es muß so sein – ich hätte es gleich denken können. Ich bin gerettet.“
„Friedrich, Du willst in der That den zweiten Mord begehen? Jener preußische Officier –“
„Ich weiß, wer er ist.“
„Und Du willst ihn verrathen?“
„Verrathen? Jeder ist sich selbst der Nächste. Weißt Du, daß die Franzosen unsere Anwesenheit hier im Schlosse kennen? Der Kutscher war eben hier; sie haben meine Pferde und den Wagen erkannt, und haben von Desertiren gesprochen. Der Oberst weiß in diesem Augenblick Alles.“
„Und Du willst Dich durch einen zweiten Mord retten, Friedrich?“
„Thorheit!“
„Mein Gott, mein Gott! Und jene unglückliche Mutter rief für dieses zweite Verbrechen das Blut auf unsere armen Kinder herab. Das eine von ihnen liegt schon krank da, im Fieber. Friedrich –“
„Thorheit, Charlotte! Sollen sie mich erschießen? Jener preußische Officier oder ich, es bleibt keine Wahl. Gehe in das Zimmer zu den Kindern. Ich glaube Jemanden kommen zu hören.“
Es kam in der That Jemand die Wendeltreppe herauf. Der Irre mußte in den Seitengang zu seinem Zimmer zurück. Er sah einen französischen Officier vorbeigehen. Es war der Adjutant des Obersten, der in das Zimmer des Fremden ging. Der Irre schlich ihm wieder nach, horchte wieder, vernahm wieder, was drinnen gesprochen wurde.
„Commandant,“ sagte der Adjutant, „ich habe auf Befehl des Obersten Ihnen anzukündigen, daß Sie Gefangener sind.“
„Ich Gefangener, mein Herr?“ erwiderte verwundert der Commandant. „Dars ich fragen, warum?“
„Sie haben Ihren Posten als Officier des Kaisers verlassen.“
„O, ich? Sie wissen doch, daß ich Officier der Gensd’armerie des Kaisers bin?“
„Gewiß.“
„Wohlan! Als Officier der Gensd’armerie des Kaisers dürfte ich die besondere Pflicht haben, Verräther, die aus der Armee des Kaisers desertirt und zu seinen Feinden übergegangen sind, ihrer gerechten Strafe zu überliefern. Ein solcher Verräther weilt in diesem Schlosse. Dem Kaiser wird gerade an seiner Person besonders gelegen sein. Ich erfuhr, daß er hier war. Er wurde hier geheim gehalten, und es bedurfte besonderer List, seinen verborgenen Schlupfwinkel zu erfahren. Mir ist es gelungen.“
„Darum sind Sie hier?“ fragte der Adjutant.
„Darum sehen Sie mich hier!“
„Mit Ihrer Gattin? Mit Ihren Kindern?“
„So ist es, mein Herr. Die Reise hierher war in der gegenwärtigen Zeit ein großes Opfer. Die Preußen sind im Anrücken; Sie selbst haben noch vor kaum einer Stunde ein Gefecht mit ihnen bestanden. Der Feind hätte in größerer Anzahl vorgerückt, das Gefecht hätte sonst für Sie unglücklich sein können. Der Feind wäre dann in der heutigen Nacht oder morgen in der Stadt. Sollte ich meine Familie dort schutzlos zurücklassen? – Aber haben Sie die Güte, mich zu dem Herrn Obersten zu führen, damit ich ihm die weiteren Mittheilungen machen kann.“
Der Adjutant mochte noch so sehr den Kopf schütteln zu dem, was er hörte, er mußte den Gensd’armerieofficier zu seinem Obersten führen. Beide kamen aus dem Zimmer in den Gang. Der Irre zog sich nicht vor ihnen zurück; er trat ihnen entgegen.
„Ah, meine Herren. Sie suchen den preußischen Officier? Er ist in jenem Zimmer, dort, dort ist er.“
„So ist es,“ bestätigte der Gensd’armerieofficier.
„Holen wir die Befehle des Obersten ein,“ sagte der Adjutant.
Die beiden Officiere gingen. Der Irre kehrte noch einmal an die Thür des Gensd’armerieofficiers zurück. Die bleiche Frau war darin. Er hörte sie mit schwankendem Schritt auf und ab gehen und glaubte, sie weinen zu hören. Er vernahm hinten im Gange ein anderes Geräusch und eilte in sein Zimmer. Die Tante fand ihn dort. Sie errieth aus seinen Worten, was geschehen war. Die Tante schauderte. Sie eilte die Treppe hinunter, in die Halle, in dieser zu dem Zimmer ihres Bruders, in welchem der verwundete Sohn des Obersten lag. Es standen französische Soldaten vor dem Zimmer, welche sie aufhielten.
„Zu wem, Mademoiselle?“
„Zu Ihrem Obersten.“
„Er spricht Niemanden.“
„Ich muß zu ihm.“
Meine Tante sprach es so entschlossen und sie sah so bleich aus, so angstvoll und war doch dabei so schön. Sie wurde eingelassen und trat in das Zimmer. Es waren nur wenige Menschen darin. In dem Bette ihres Bruders lag der verwundete Sohn des Obersten. Vor ihm saß der Wundarzt, der so eben den Verband vollendet hatte. Er beobachtete den unruhigen Schlummer des Verwundeten. Nahe dabei stand der Oberst, vor ihm standen sein Adjutant und der Commandant der Gensd’armerie.
Er sprach mit ihnen und hatte dem Adjutanten einen Befehl ertheilt. Der Adjutant verbeugte sich militärisch und wandte sich um, das Zimmer zu verlassen und den Befehl zu vollziehen. In diesem Augenblicke war meine Tante in das Zimmer getreten. Sie glaubte zu wissen, was der Gegenstand des Befehls sei.
„Mein Herr,“ sagte sie zu dem Adjutanten, „darf ich Sie bitten, noch ein paar Augenblicke hier zu verziehen?“
Sie sprach in dem reinsten Französisch. Der Adjutant blieb unschlüssig stehen, und meine Tante schritt auf den Obersten zu. Er war ein großer, schöner Mann, schon mit weißen Haaren, aber noch in der Fülle seiner Kraft. Sein Gesicht war ernst, strenge, aber es trug edle Züge und erweckte Vertrauen. Meine Tante faßte Vertrauen und wandte sich an ihn.
„Herr Oberst, Sie gestatten Ihrem Herrn Adjutanten, hier zu bleiben, bis ich Ihnen eine Bitte vorgetragen habe?“
„Was wünschen Sie, Mademoiselle?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863). Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_739.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2024)