Verschiedene: Die Gartenlaube (1863) | |
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„Darf der Verwalter Sie ferner begleiten?“ fragte die Tante.
„Ja.“
Die Tante umarmte den Verwundeten.
„Wir sehen uns wieder, mein Adalbert. Ich bleibe immer Dein!“
„Wir sehen uns wieder, meine edle Therese!“
Die Soldaten führten ihn aus der Halle in den Hof, durch diesen aus dem Thore nach dem Walde zu. Die Tante ging in die Wohnstube zu ihrer Mutter. Die alte Frau war allein. Sie wußte von Nichts. Wer hätte ihr die Schreckensbotschaft bringen sollen? Sie sah das todtenbleiche Gesicht der Tante.
„Therese!“ rief sie, das Entsetzliche ahnend.
„Er wird erschossen, Mutter. In wenigen Augenblicken werden wir die Schüsse hören. Dort am Walde.“
Sie ließ sich auf die Kniee nieder, vor dem Rollstuhle; sie legte ihr Gesicht auf die Kniee der Großmutter. Mutter und Tochter sprachen kein Wort. So verharrten sie zehn Minuten, zehn lange, bange Minuten. Draußen am Walde fielen vier Schüsse.
„Es ist vollbracht,“ sagte meine Tante Therese. Sie stand auf. Ihr Gesicht war völlig blutleer. Sie trat an das Fenster, das nach dem Walde ging, und betete still zu dem dunklen Nachthimmel hinauf.
Als sie dann zu ihrer Mutter zurückkehrte, hatte der Himmel ihr die Wohlthat der Thränen verliehen. Mutter und Tochter weinten lange. Der Verwalter trat in das Zimmer. Er übergab der Tante eine Locke.
„Der Todte schickt sie Ihnen. Er bat den Officier, daß ich sie ihm abschneiden dürfe. Er selbst konnte es nicht, da er den einen Arm in der Binde trug. – Uebergeben Sie sie an Therese! das waren seine letzten Worte. Ich hatte ihn an einen Baum geführt. Die Kugeln trafen ihn.“
Früh am anderen Morgen mußten die Franzosen abziehen. Ordonnanzen kamen und meldeten, daß ein starkes Corps Preußen im Anzuge sei. Sie nahmen eine Leiche mit aus dem Schlosse, der Sohn des Obersten war an seiner Wunde gestorben. Der Oberst hatte mit dem Abzuge gezögert, bis der junge Officier seinen letzten Athemzug ausgehaucht hatte. Er kam mit der Leiche an dem Walde vorbei. Dort lag eine zweite Leiche – die Leiche eines jungen Officiers. Vier Kugeln hatten die Brust durchbohrt.
Der Oberst warf einen schmerzlichen Blick auf den entseelten Körper des Sohnes, den ein Wagen neben ihm fuhr. Aber er hatte seine Pflicht erfüllt, indem er den Einen den fremden Kugeln entgegengeführt und den Anderen durch die Kugeln seiner Leute hatte erschießen lassen. Der Krieg bringt wunderbare und furchtbare Widersprüche zusammen!
Ein paar Stunden später waren die Preußen da. Gleich nach ihnen kam der alte Reichsfreiherr. Auch neben ihm fuhr eine Leiche, als er das Schloß wieder verließ. Er brachte sie in das stolze reichsfreiherrliche Erbbegräbniß.
In dem Gesichte meiner Tante Therese hat seit jenem Augenblicke, da sie die vier Schüsse am Walde fallen hörte, kein Mensch jemals wieder einen Tropfen Blut gesehen.
Im Sommer vorigen Jahres feierte die Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn ein glänzendes Fest am Fuße der Roßtrappe. Es bestand in Eröffnung und Einweihung der Harzbahn bis Thale, dem so hübsch germanisch verstreuten Dorf an der Bode, wo sie zwischen dem Hexentanzplatz und der Roßtrappe so recht frisch und seelenvergnügt aus ihren duftigen Gebirgswindungen hervor zum ersten Male zu Athem kommt, rothbäckig und lachend, wie ein wilder Junge, der sich aus reinem Uebermuthe immer bergab außer Athem lief. Wenn wir aus dem Coupé steigen, blicken wir in’s Bodethal aufwärts und sehen das Gasthaus zur Roßtrappe aus grüner Waldung 600 Fuß über uns herabwinken.
Ist das nicht bequem, nicht wunderhübsch, von allen Fernen der großen norddeutschen Ebene mit Dampf mitten in die deutsche Gebirgsschönheit hineinfliegen, noch in derselben Stunde beim Roßtrappenwirth Forellen essen und dabei seine gemüthlichen Hühner als Tischgenossen bewirthen, in die Hand nehmen und aus der Hand füttern zu können? An der Trappe selbst schießt uns der Invalide für einen guten Groschen etwas vor, und die Hexen des Tanzplatzes, 600 Fuß weit drüben am anderen Ufer und 200 Fuß höher, antworten sieben Mal immer stärker, wenn sie gute Lust und Laune haben. Unten, 1100 Stufen tief, schnurrt gemüthlich an die Felsen und zwischen die grünen Bäume gekauert der alte „Waldkater“ und blinzelt idyllisch-schläfrig auf die lustig zu seinen Füßen springende und sprudelnde, mit unzähligen keinen Wassereinfällen spielende Bode herab.
Roßtrappe, Hexentanzplatz, Waldkater, – mehr Gebirg und Thal braucht der Mensch überhaupt gar nicht, um glücklich zu sein und zu athmen, wieder leben und lieben, wieder essen und trinken, gesund aussehen und es in Berlin wieder eine Zeit lang aushalten zu lernen.
Freilich auch dieser erste und in meiner Erinnerung der vollkommenste Theil des Harzes ist bereits von der Civilisation ganz beleckt und übertüncht worden. Böse Bauspeculanten haben ihm einen „neuen“ Waldkater in’s Thal dicht neben den alten gesetzt und ein modernes „Zehnpfund-Hotel“ vor die Thür, gleich neben die Station. Auf der einen Seite desselben baumeln immer Gehenkte im Winde mit schmerzvoll umhergeschleuderten Armen. Die nach unten umhergreifenden leeren Mannshemdenärmel zappeln so unglückselig in die saftig grünsten Aussichten hinein, und das Hotel selbst bratet so nüchtern und vornehmtuerisch vor der Bodethalpoesie in der Sonne, daß man sich ärgern muß, wie über eine Caserne vor einem gothischen Dome. Die ganze Wirthschaft ist nichts als ein unauflösbarer Mißton in der „gefrornen Musik“ der Baukunst. Ihr hättet von dem Steingerölle der Bode, das von den Jahrtausenden in überschwenglicher Fülle und Mannigfaltigkeit von seinen Gipfeln herabgestürzt, von den unermüdlichen rüttelnden Wasserdonnern der Bode losgelöst, ausgehöhlt und abgefeilt wurde, burgartige Mauern aufschichten, sie mit Moos und Eichentrieben auswattiren, auch das Dach etwa im Charakter des Roßtrappenvorsprunges anlegen und mit Sitzen, Gängen und Aussichten ausstatten müssen. Das Material dazu lag in reichster, malerischer Auswahl zu euren Füßen. Die Geister des Harzes lieferten euch den Baustyl.
Aber noch ärger hass’ ich den geschniegelten „neuen“ Waldkater weiter oben, dem man’s gleich von Weitem ansieht, daß ein Berliner Häuser-Speculant das Geld dazu gegeben. Er hat, wie der albernste Berliner versteinerte Witz, so recht modern vornehm und naturverhöhnend neben dem gemächlichen „alten“ von der schönsten Hexentanzplatzwand im schönsten Theile des Bodethalkessels Besitz genommen, die beste Aussicht und alle Stimmung in dieser großartigen Harmonie von Formen und Farben verdorben.
Der alte Waldkater ist ein anspruchsloses gemüthliches Eß- und Trinkhaus an den berühmten 1100 Stufen, die vom Hexentanzplatz herunter und zu ihm hinaufführen. Gegenüber springt die Roßtrappe hervor. Ihre vom tiefsten Eichengrün tapezirten Tannenwände mit riesigen Felsenthürmen und verzauberten Gestalten oben steigen und dehnen sich dicht vor unsern Augen aus den Tiefen der donnernden Bode empor. Man sieht weiter in die wilde Thälverengung hinauf nach der Teufelsbrücke hin. Unten gegenüber glänzen Tassen und farbige Kleider und gelbe Damenhüte mit weißen Federn zwischen Eichengrün und Grauwacke. Die Herrschaften sitzen in der „Conditorei“, die sich dort so hübsch eingeklemmt und versteckt hat, um das gewaltige, aber zu beherrschende und vielfach abgeschlossene und eingerahmte Bild nicht zu stören. Hinter dem Waldkater selbst erhebt sich unmittelbar das erhabene Spiel von Baumgrün und Felsengrau, 200 Fuß höher als die Roßtrappe, zum Hexentanzplatz empor.
Unten vor dem alten Waldkater, über den man ohne Störung hinwegsieht, sitzt man unmittelbar an dem rauschenden, in unzähligen kleinen Wasserfällen weiß aufzischenden Gewässer. Man schaut hinab und, ohne den Stuhl zu rücken, empor zu den unheimlichen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1863). Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 742. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_742.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2024)