verschiedene: Die Gartenlaube (1864) | |
|
Nun erschien schwarz, mit feierlichen Nebelspaltern, der Landamman und der Landstatthalter, und hinter ihnen der lange Zug der Behörden, Standescommissäre, Rath, Landrath, Gerichte, Geistlichkeit. Nach altem Brauch wird, so lange der Behördenzug sich auf dem Wege befindet, mit allen Glocken geläutet. Im Ring angelangt, nahmen die Behörden nach kurzem, stillem Gebet auf der ersten Bank des Amphitheaters Platz.
Den Beginn des Tages machte, wie immer, die Verlesung des Landsgemeindereglements, des sogen. „Dänibergerbriefes“, welcher den Landleuten bei Strafe einjährigen Verlustes von „Ehr und Gewehr“ Ruhe und Ordnung gebietet. Hierauf bestieg der Landamman, Dr. und Nationalrath Heer von Glarus, die Tribüne und sprach, indem er das Landesschwert ergriff, die feierliche Anrede an die „vertrauten lieben Herren Landleute“. Dann schwor er in die Hände des Landstatthalters den Landammaneid und, wieder auf das Schwert gestützt, sagte er den Landleuten den Landeseid vor. Langsam und feierlich schworen ihn stehend die 5–6000 Gesetzgeber nach: nach bestem Wissen und Gewissen und ohne alle böse Gefährde des Landes Wohl zu beschließen. Eine Handlung von hohem, ergreifendem Ernst und von unvergeßlicher Erinnerung, ein fast wunderbarer Anblick, ein Volk sich selbst Treue schwören zu sehen!
Nach diesem feierlichen Act begann die Tagesordnung. Die Grundlage derselben bildet das den einzelnen Staatsbürgern schon vorher behändigte sogenannte Landsgemeindememorial, welches in regelmäßiger Reihenfolge alle Gesetze und Beschlüsse des Landrathes, der Vollziehungsbehörde, die verfassungsgemäß der Landsgemeinde vorgelegt werden müssen, ferner alle von Gemeinden oder Landleuten an die Landsgemeinde gestellten Anträge enthält. Die Landsgemeinde übt als constitutionelle Attribute folgende Rechte: Sie entscheidet über Annahme, Verwerfung und Revision der Verfassung, sie sanctionirt sämmtliche Gesetze und Staatsverträge, sie verfügt über das Landeseigenthum, sie prüft und genehmigt die Landesrechnung, sie votirt die Steuern, sie creirt die Beamtungen, sie wählt die Regierung, die Beamten und Gerichte, sie ertheilt das Landrecht, d. h. das Staatsbürgerthum. Außer dem Landrath hat jede Behörde und jeder Landmann Initiative d. h. das Recht, an die Landsgemeinde Anträge zu stellen. Im Januar jedes Jahres werden Behörden und Landleute durch amtliche Publication aufgefordert, ihre allfälligen Anträge einzureichen. Die Anträge werden vom Landrath geprüft und, wenn zehn Stimmen sich für dieselben erklären, als erheblich in’s Landsgemeindememorial aufgenommen und mit einem Gutachten des Landrathes begleitet. Unerheblich erklärte Anträge müssen gleichwohl auf Verlangen im Anhang des Memorials an die Landsgemeinde gebracht und können von dieser als erheblich erklärt werden. Die Landsgemeinde debattirt über sämmtliche Tractanden des Memorials; sie kann dieselben abändern und entscheidet mit Stimmenmehrheit.
Das heurige Landsgemeindememorial enthielt nicht weniger als 28 Nummern und zwar Geschäfte aus allen Zweigen der Machtvollkommenheit des souveränen Volkes: Landessteuer, einen Staatsvertrag betreffend Verpfändung von Eisenbahnen, Gesetzesanträge über Wasserrechte, Erbrecht der Unehelichen, Ehesachen, Armenwesen, Veräußerungen von Staatsgut, Beschränkung des Jagdrechtes, Einführung von Hundetaxen, Fleischtaxen etc., kurz eine Geschäftsliste, welche einer großen parlamentarischen Kammer würdig gewesen wäre. Die wichtigsten, alle bisher genannten Fragen überragenden Geschäfte waren jedoch ein Antrag auf Verfassungsrevision und ein Fabrikpolizeigesetz. Also nichts Geringeres, als die Aenderung des konstitutionellen Grundgesetzes und die offene Wunde der Gesellschaft, ein wichtiges Stück Arbeiterfrage, sollte eine Versammlung von 5 – 6000 Männern aller Stände, von Beamten und Geistlichen, von Gelehrten und Ungelehrten, von Bauern und Handwerkern, von Fabrikanten und Arbeitern, endgültig entscheiden.
Sehen wir nun zu, wie sich dieses Heer von Gesetzgebern bei seiner schweren Aufgabe benahm. Der Reihenfolge nach setzte der Landamman die Tractanden des Memorials mit einer kurzen Erläuterung in Discussion. Die Versammlung zeigte sich über jede Frage merkwürdig orientirt. Je nach der Wichtigkeit werden die Geschäfte kürzer oder ausführlicher behandelt. Manche passirten ohne alle Debatte. Bei den meisten meldeten sich sofort die Redner, welche von der Tribüne oder aus dem Ringe „kurz und nervose“ ihre Gesichtspunkte erörterten. Es sprachen hochgebildete Männer, Bauern, Leute aus allen Classen der Gesellschaft; der doctrinäre Styl war vertreten, nicht minder der Volkstribunenstyl, im Ganzen aber herrschten eine Würde, ein parlamentarischer Takt, eine kernige und lichtvolle Faßlichkeit in den Reden, wie sie in keinem konstitutionellen Parlamente besser zu finden sind. Die Fragen wurden erschöpfend und vielseitig behandelt, aber nirgends schweifte man ab oder hielt man sich zu lange auf. Die Zuhörer blieben unermüdlich aufmerksam und lebendig. Wie in der französischen Legislative der Redner hier und da unterbrochen wird, so hörte man auch hier Rufe verschiedener Art: „Gut geredet!“ – „Er hat Recht!“ – „Nein, das wollen wir nicht!“ – Als ein Volksredner etwas zu bitter wurde, rief Einer: „Gut reden kann er, aber er soll auch ,nit wüest’ reden!“ Wurde die Lebendigkeit etwas zu groß, so ermahnte der Landamman zur Ruhe, die Weibel kreisten umher und erhoben besänftigend die Hände: „Ruhig, vertraute Herren Landleute, ruhig, es dauert nicht lang; den dürft Ihr schon hören, der sagt’s Euch, wie man’s nicht besser findet!“ und was der originellen Weibelhöflichkeiten mehr waren. War die Debatte erschöpft, so wurde „Scheiden“ (Abstimmen) verlangt und rasch und ohne Schwanken beschlossen. Es war klar, daß die Leute eine sichere eigene Meinung besaßen und daß sie das Memorial nicht blos in Empfang genommen, sondern auch gelesen hatten. Allein auch das genügt nicht zur Erklärung des bestimmten Urtheils dieser Gemeinde, dazu gehört die lange unentwegte Uebung dieses Volkes, sich selbst zu regieren. Ist doch vor der Tribüne den Knaben ein eigener Platz hergerichtet, wo dieselben unermüdet bis zum Ende sitzen und lauschen. Die Abstimmung geschieht durch das sogenannte Handmehr, und der Landamman giebt in fraglichen Fällen unter Zuziehung anderer Vertrauensmänner nach gewissenhaftem Ermessen, ohne Abzählung, das Mehr ab. Ist das Mehr entschieden und wäre es die wichtigste Frage, so schweigen meist Minderheit und Mehrheit; kein Triumph, keine Klage, ruhig wird fortgefahren in den weiteren Verhandlungen.
In erster Linie wurde die Landesrechnung und die Landessteuer genehmigt und zwar letztere im Betrage von 3‰ Vermögenssteuer und 1 Fr. 50 Cent. Kopfsteuer. Hierauf wurden Abänderungen des Landessteuerwesens, Bestimmungen über den Bezug des Wein- und Branntweinohmgeldes, Verkauf von Landesboden etc. behandelt. Die Jagdzeit wurde zur Schonung der Gemsen und Murmelthiere um einen vollen Monat beschränkt, was bei der Jagdliebhaberei der Aelpler eine starke Concession und Selbstbeschränkung ist. Ferner wurde das Halten von Jagdhunden ganz verboten und zur Verminderung des Ueberflusses von Hunden (die Behörde erklärte ausdrücklich, es geschehe nicht etwa zu Gunsten einer kleinlichen Finanzklauberei) eine Hundetaxe von 5 Fr. für das Thier eingeführt. Bei der Revision der Verordnung über die öffentlichen Tanzbelustigungen mußte abgebrochen werden, weil zum dritten Mal Regen einfiel, und die Erledigung der noch übrig gebliebenen zehn Tractanden wurde auf die Nachgemeinde des folgenden Sonntags verschoben.
Dies war der im Allgemeinen weniger erhebliche Geschäftskreis der Landsgemeinde; schon dieser allein wäre jedoch hinreichend, um die active Theilnahme des Volkes am gesammten Staatshaushalt, wie sie in Glarus stattfindet, zu einer höchst merkwürdigen Thatsache zu stempeln. Wären die Landsgemeinden nicht, so würde man eine solche Thätigkeit des Volkes für unmöglich halten und den Gedanken, ihm eine solche zu übertragen, lachend in das Reich des Absurden verweisen. So aber existirt sie, sie ist da, wirklich und nicht wegzuleugnen; und nicht nur das, sondern sie wird in Wahrheit zum Wohl des Landes ausgeübt. Man wird Niemanden in Glarus finden, der sich bei diesem Zustande nicht wohl befände, und ich kann aus dem Munde der höchstgestellten Glarner bestätigen, daß sie ihre rein demokratische Verfassung für die freieste und zugleich glücklichste der Schweiz halten und dieselbe um keinen Preis mit irgend einer andern vertauschen würden. Ist eine solche Verfassung einmal möglich, so ist sie in der That ein Kleinod, denn sie macht das große Geheimniß zur Wahrheit, daß das Volk politisch stets mündig und die Regierung stets volksthümlich bleibt.
Die Landsgemeinde hat jedoch noch zwei Fragen behandelt, welche sie über den Kreis selbst ihrer gewöhnlichen Thätigkeit erheben und dieses Jahr vorzugsweise würdig machen, daß von ihr auch die Außenwelt Kunde erhalte. Es sind dies die Frage der Verfassungsrevision und das Fabrikpolizeigesetz.
Nach den Zuständen der europäischen Monarchieen sind die
verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_426.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)