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Seite:Die Gartenlaube (1864) 427.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864)

Kammern der großen Länder in der Regel froh, wenn es ihnen gelingt, ihre bestehenden Verfassungen zur Geltung zu bringen, und denken nicht so leicht an Revision derselben. Dies ist schon in sämmtlichen einzelnen Staaten der Schweiz anders, denn seit den dreißiger Jahren befinden sich die schweizerischen Cantone in einem so zu sagen permanenten Revisionsprocesse. Man würde sich jedoch sehr täuschen, wenn man glaubte, daß sie damit ihre Zustände einer gewaltsamen Unruhe aussetze; denn erstens brechen sich die Revisionsbewegungen in den kleinen Umfängen der Cantone und nehmen nie den Charakter großer, revolutionärer Stürme an, zweitens wird nicht, wie im alten Athen, die Verfassung bald in eine aristokratische, bald in eine demokratische, bald in eine tyrannische umgewandelt, sondern die demokratische Grundlage bleibt unangetastet und nur das Bewegliche wird der Zeit gemäß umgebildet und fortentwickelt. Auch in der Schweiz selbst aber ist es immer eine besondere Eigenheit, daß die Revisionsfrage, wie zu Glarus, in offener Landsgemeinde debattirt und entschieden wird.

Die Verfassung von Glarus ist eine rein demokratische und entspricht der in den schweizer Gebirgsdemokratien herrschenden Organisationsform. Die Regierung besteht in einer fächerförmig sich erweiternden Stufenleiter von Behörden. Regierungshaupt ist der Landamman, ein Einzelregent von großem moralischem Einfluß. Sein Einfluß darf aber eben nur ein moralischer bleiben, daher hat er selbst keine befehlende Gewalt, sondern er theilt die regierende Gewalt für die weniger wichtigen Geschäfte zunächst mit den zwei ersten Mitgliedern der Standescommission, dann mit allen acht Mitgliedern dieser Behörde, für die wichtigern mit dem Rath, welcher aus der Standescommission und 30 von den Gemeinden gewählten Vertretern gebildet ist. Landamman, Standescommission und Rath sind die eigentliche Regierungsbehörde. Zur Gesetzgebung und Landesrepräsentation erweitert sich dann dieser Rath wieder in den aus 117 Mitgliedern zusammengesetzten dreifachen Landrath, und über allen steht die Landsgemeinde. Die Verfassung besteht also nicht aus sich gegenüberstehenden Gewalten, sondern in einer nach oben aufsteigenden und sich stets vermindernden, nach unten wieder herabsteigenden und im Volke ruhenden Souverainetät. Die Gerichte sind in viele Gerichtsstäbe zersplittert. Glarus hat ein Civilgericht, Criminalgericht, Ehegericht, Augenscheingericht, Polizeigericht und Appellationsgericht.

Diese Verfassung sollte nun also revidirt werden, und zwar war es gerade die städtische Bildung des Hauptfleckens, welcher sie nicht mehr ganz behagte. Allein während anderwärts die Regierung allzumächtig ist und zu Gunsten des Volkes beschränkt werden muß, verfolgten unsere Glarner Revisionisten das umgekehrte Ziel. Es fiel ihnen nicht ein, die Souverainetät des Volkes anzutasten, vielmehr erklärten sie laut, die Landsgemeinde sei der Stolz jedes Glarners und Niemand denke sie in ihrer Machtvollkommenheit verringern zu wollen. Dagegen wünschten sie eine in weniger Einzelbehörden zersplitterte, eine concentrirtere Regierung und Landesvertretung. Ebenso beantragten sie eine Verminderung der verschiedenen Gerichtshöfe, um dadurch eine einfachere und bessere Justiz zu erzielen.

Offenbar hatten diese Ideen viel für sich und traten mit um so größerer Berechtigung auf, als über die Zersplitterung der Behörden, sowie über die Gerichte viele Klagen laut wurden. Allein das Volk verwarf die Revision mit großer Mehrheit, trotzdem daß die Revisionisten mit Feuer und Würde sprachen und alle Mittel der Beredtsamkeit, Satire, Dialektik und des Pathos erschöpften.

Warum aber verwarf das Volk eine Reform, der in so vieler Beziehung die Zweckmäßigkeit nicht abzustreiten war? Aus Mißtrauen, aus Furcht, es möchte seine alte Freiheit durch eine kräftigere, concentrirtere Regierung gefährdet sehen und sich mit einer solchen einheitlichern, straffern Regierungsform eine specifische Bureaukratie schaffen; aus dem gerechtfertigten Bedenken, etwas Gewisses, das sich lange bewährt, gegen etwas noch unerprobtes Ungewisses einzutauschen. Man kann nicht umhin, den politischen Blick des Volkes anzuerkennen, denn „Weniger Regierung!“ nicht „Mehr Regierung!“ ist die Losung der Zeit. Auch ist es ein schlagender Beweis, wie es seine Freiheit kennt, liebt und bewahrt, daß es sich sofort zur Wehr setzen zu müssen glaubt, wo auch nur der Schatten des Argwohns auftaucht, es könne in einem oder dem andern Stücke an seiner Freiheit gekürzt werden.

Nicht weniger gespannt, als auf die Verfassungsrevision, war ich auf das Fabrikpolizeigesetz. Daß Glarus die Nachtheile der Fabriken empfindet, wie alle andern Länder, daß die lange Arbeitszeit Erwachsene und besonders Kinder mit erschreckender Schnelligkeit consumirt und die Bevölkerung entartet, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. Auch daß der Glarner Landrath sich mit der Sache beschäftigte und ein Fabrikpolizeigesetz erließ, ist nichts Besonderes. Das Besondere liegt vielmehr darin, daß dieses Gesetz nun auch vor die Landsgemeinde kam. Wohl nirgends sonst in der Welt geschieht es, daß dergleichen sociale Fragen vom versammelten Volke selbst behandelt werden, und wenn es vorkäme, so würde es nur etwa in Gestalt einer communistischen Umwälzung der Fall sein, die mit einer Landsgemeinde nicht das Geringste gemein hat.

Der Verlauf in der Glarner Landsgemeinde war ein sehr rascher und regelmäßiger. Mit dem Gesetze des Landraths war man nicht zufrieden. Dasselbe reducirte die Arbeitszeit auf zwölf Stunden, aber nur für Kinder und Weiber, und enthielt auch sonst keine bedeutende Erleichterungen des Arbeiters. Es war daher Opposition zu erwarten, um so mehr, da die Arbeiter sich in Vereinen gesammelt hatten, um ihren Beschwerden Gewicht zu verschaffen. Ihr Auftreten und ihre Begehren waren aber, wie von allen Seiten anerkannt, mäßig und taktvoll gewesen. So verhielten sie sich nun auch in der Landsgemeinde. Freilich fühlte Alles, daß eine möglicherweise verhängnißvolle Frage herannahe, und als der Landamman die Debatte eröffnete, herrschte lange Zeit tiefe Stille. Da trat endlich der Gemeindepräsident von Glarus, Dr. med. Tschudi, auf und entwickelte in warmer, aber von keinerlei falschem Pathos angekränkelter Rede, daß noch mehr für die Fabrikarbeiter geschehen müsse, wenn nicht eine Degeneration der Bevölkerung eintreten solle, unter welcher Arbeiter, Industrie und Staat gleich zu leiden hätten. Das Volk sei eine Familie, und wenn ein Glied leide, so leiden die andern mit. Er beantragte daher, daß die Arbeitszeit auch für Erwachsene auf zwölf Stunden gekürzt, daß alle Nachtarbeit verboten und die Fabrikanten angehalten werden, ihre Maschinen mit möglichster Vorsorge gegen Unglücksfälle zu versehen. Freilich sei dies, so schloß der Redner, noch nicht Alles, was der Arbeiter wünschen, und hoffentlich auch nicht Alles, was noch für ihn geschehen könne, allein für jetzt sei es das Mögliche, und besser sei es, in Frieden das Erreichbare anzustreben, als dem Unerreichbaren mit gewaltsamen Kämpfen nachzujagen.

Dieser Ausspruch traf den Nagel auf den Kopf. Das gesammte Volk, die Arbeiter mit, begriff, daß dies die erreichbare Transaktion sei, welche sofort und beharrlich festgehalten werden müsse. Als daher nach Dr. Tschudi ein Industrieller auftrat, um über Benachtheiligung der Industrie zu wehklagen, schnitt ihm der allgemeine Ruf „Scheiden“ das Wort ab, nicht minder aber allen Andern, welche noch sprechen wollten. Die Abstimmung wurde durchgesetzt, und die Anträge Tschudi’s mit jubelndem Mehr zum Beschluß erhoben.

Das war eine schweizerische Landsgemeinde. Mancher Leser wird vielleicht sagen: „Wie mag man nach solchen Kleinigkeiten so viel nachfragen! Dieses Glarus ist ein Fleck Erde, den man kaum sieht; was interessirt es die großen Nationen draußen, wie da regiert und gerichtet wird! Wir können es doch diesem Zwerglein nicht nachmachen.“ Allein, mein Freund, begegnet es Dir nicht, daß Du zuweilen durch den Wald gehst und einen zierlich gebauten Ameisenhaufen entdeckst, oder emporblickst zu einer feinen duftigen Bienenwabe, oder die wunderbaren Pflanzenzellen zerlegst, und in allem ahnend das große Geheimniß der Natur erkennst? So ist es auch im Staatsleben, und so verhält sich das kleine Glarus zu ihm. Wie Du die Gestalten der Natur nicht nachahmen kannst, aber doch die köstlichen Lehren der Wissenschaft aus ihnen ziehst, so ist das kleine Glarus das Modell einer Volksfreiheit, wie sie noch kaum geahnt wird. In dieser Gestalt kann sie freilich nicht auf alle andern Völker überkommen, allein lernen können die Völker aus ihr, wie weit Freiheit und Ordnung friedlich zusammengehen; sie können ein Bild reiner, wirklicher Freiheit sehen, ein wahres lebendiges Gebilde des Volksgeistes, dessen Betrachtung sie lehren wird, was Freiheit ist, es ihnen überlassend, wie sie das Gelernte bei sich anwenden wollen. So untröstlich das dumpfe Brüten ist, das noch vielenorts auf den Menschen liegt, so tröstlich der weite Blick in die erreichbare Reife und Mündigkeit des Volkes, welchen uns die kleine Glarner Landsgemeinde eröffnet. Beseligend ist das Bewußtsein, daß die Menschheit noch viel vor sich hat.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1864). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1864, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1864)_427.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)
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