Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1865) 480.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Blätter und Blüthen.


Der Junkersturm auf Mirow. Nachdem die ergötzliche Erzählung von der Heldenthat des Junkers von Arenstorff gegen die mecklenburgische Stadt Mirow schon die Presse verlassen hatte, gingen uns von dem Verfasser des Artikels noch verschiedene sehr interessante Einzelheiten aus dem merkwürdigen Strauße zu, die wir, weil sie auf das Gebahren der mecklenburgischen kleinen Herren ein neues Licht werfen, hiermit nachträglich veröffentlichen. –

Als Herr von Arenstorff vernahm, wie schmählich man seinen Dienstmann in Mirow behandelt, ließ er die Sturmglocke läuten und sammelte alle streitbaren Männer seiner Herrschaft. Es waren deren etwa sechszig, welche sich mit Mistgabeln, Dreschflegeln und Wagenrungen wehrhaft machten, während Herr v. A. selber und seine Hausdienerschaft sich mit Säbeln und Pistolen bewaffneten und fünf Mann stark die Cavalerie der Armee abgaben. Zwei von den fünf Geschützen der Burg wurden auf Mergelkarren befestigt und nun ging es vorwärts in der Richtung auf Mirow. Als der Ort fast erreicht war, wurden die Geschütze auf einem Hügel günstig postirt. Dann rückten Reiter und Fußvolk in die Stadt, und Herr von A. ließ zwanzig Mann den Platz vor dem Schullehrer-Seminar besetzen, während das Hauptcorps an der Zugbrücke Posto fassen mußte. Nunmehr begab der edle Ritter selber, gefolgt von seiner Cavalerie, sich zu dem Commandanten der Burg, dem ersten Beamten des Domanialamtes Mirow, Kammerherrn von Sch…, und forderte die sofortige Freilassung seines Dieners. Herr von Sch… zog es aber vor sich nicht persönlich sprechen zu lassen.

Hierauf wurde das Haus des Polizeidieners, worin Jean detinirt war, erstürmt und Jean wurde frei. Inzwischen bliesen die Nachtwächter des Städtchens Feuerlärm und der Küster zog die Sturmglocke an, worauf sich dann die Einwohner auf dem Damm versammelten. Mehreremale sprengte Herr v. A. mit seinen Reitern dieselben auseinander, wobei einige Städter überritten wurden; dies hatte zur Folge, daß die Mehrzahl derselben sich wieder in ihre Häuser begab. Schuster- und Schneidergesellen thaten sich jedoch zusammen und traten mit Knitteln den Ritterlichen entgegen, worauf letztere denn ihre Säbel zogen und einen Choc ausführten. Ein Schneider Wolfram leistete mannhaften Widerstand. „Hau dem Kerl den Kopf herunter!“ rief Herr v. A. seinem Jean zu, und der Schneider wurde denn auch so bedroht, daß ihm, um sich zu salviren, nichts übrig blieb, als sich von oben herunter in den Wallgraben zu stürzen und sich durch Schwimmen an’s andere Ufer zu retten.

Allmählich wurde nun aber auch in den Bürgern die Galle rege, und so wurden denn Steinwürfe häufig und Schimpfreden noch häufiger. „Wöllt den Kierl den Grind besehn!“ „Wöllt em de Pier (Pferde) dodtstäken!“ scholl es. Inzwischen gewahrte Jean den Böttigermeister Schlange, dem er schon lange nicht grün war. Er sprengte mit dem Säbel auf ihn ein und hetzte ihn zehn bis zwölfmal um das Spritzenhaus herum. „Schlag den Hund auf den Bregen!“ (Hirnschädel) brüllte Herr von A. – „Dit’s mie Dod!“ schrie Schlange, rettete sich aber doch noch glücklich unter die Brücke des Wallgrabens.

Inzwischen hatten die Seminaristen, etwa fünfzig an Zahl, ihren Schlafsaal verlassen und sich vor dem Seminar aufgestellt. Arenstorff sprengte mit seinen Reitern auf sie ein, doch sie wichen nicht. Er ritt nun an die jungen Leute hinan. „Ihr seid tüchtige Kerle! Recht so. im Kampfe feststehn! Alliirt Euch mit mir!“ Dazu verspürten die Aufgeforderten jedoch keine Lust, und bald darauf, nach drei Uhr Morgens, commandirte Herr v. A. seinen Truppen „Kehrt Euch! Marsch!“, und nachdem denn noch einige Gartenzäune und so weiter demolirt waren, kehrte er und die Seinen in das Krümmel’sche Reich zurück.

Am 6. Mai kamen Herr v. A. und Jean wieder in Mirow eingaloppirt, Ersterer mit einem eisernen Knittel von der Stärke eines Forkenstiels bewaffnet. Herr v. A. ließ sich zunächst für zehn Thaler kleine Münze geben und warf dieselbe dann, als die Knaben aus der Schule kamen, unter diese aus, hin und wieder aber auch Eier, faule Aepfel und dergleichen. Dann begann er im Gasthof, wo er abgestiegen, mit seinem eisernen Knittel die Fenster einzuschlagen, forderte auch die Schulknaben auf, ein Gleiches zu thun, und gab denen, die Folge leisteten, pro Mann sechs Groschen. Darauf setzten er und Jean sich zu Pferde und vor das Haus des Amtsgerichts-Auditors Kammerjunker von M… gekommen, forderte er die Anwesenden auf, ihm diesen und den Polizeidiener K… zu binden und herauszubringen; wer’s ausführe, solle zehn Thaler haben. Dieses blieb jedoch fruchtlos, und nun begaben Ritter und Knappe sich vor das Haus des Kaufmanns L… „Zamel (Samuel) raus!“ schreit Herr v. A., und da Zamel nicht erscheint, beginnt er ihm die Fenster einzuschlagen. Endlich schmettert er die eiserne Keule gegen das Schaufenster, so daß dieses vollständig zertrümmert wird. Schlimmeres noch fürchtend, erscheint Zamel jetzt in der Thür und fleht um Gnade. „Leck mir die Pfote, Caliban!“ heischt nunmehr der Ritter, und nachdem der Jude solches gethan, muß er, auf den Knieen rutschend, dem gestrengen Herrn die eiserne Keule zurückbringen. Am nächsten Morgen empfing er jedoch dafür von Herrn v. A. zwanzig Thaler.

Jetzt erschienen indeß der Kammerjunker von M…, der Landreiter Z…, Gerichtsdiener D… und Amtsdiener K… Herr v. A. brüllte: „Jean, Pistolen her! Pistolen her!“

„Herr,“ entgegnete Jean, „diese Herren sind unsere Freunde.“

Das erkannte denn auch nun der edle Ritter, und er begab sich an die Beamten der öffentlichen Sicherheit hinan und reichte Allen die Hand. Auch ein Herr von Linstow kam herzugeritten, und auf das Andringen aller dieser respectabeln Personen entschloß sich denn der Ritter, für heute seiner Thaten genug sein zu lassen. Gegen neun Uhr Abends verließ er endlich Mirow. Am folgenden Tage wurden einige Husaren von Strelitz aus in den Ort gelegt, später dann auch ein Proceß gegen Herrn v. A. angestrengt, der, nachdem er drei Jahre lang gedauert hatte, damit endete, daß Ritter und Schildknappe auf vier Monate nach Dömitz in Festungshaft kamen, während die gemeinen Zuzügler in verschiedenen Abstufungen zu Wasser und Brod condemnirt wurden. –

Man wäre wohl zu dem Glauben berechtigt, daß der Herr v. A. mit seinen Ritterzügen in unseren Zeiten ebenso vereinzelt dagestanden habe, wie weiland Don Quixote mit den seinigen. Dies verhält sich jedoch anders, wie ich selber erst neuerlichst erfahren habe.

Vor dreißig bis vierzig Jahren geschah es mehrfach in der Seestadt Wismar (12,000 Einwohner), daß der Besitzer des eine Meile entfernten Gutes W., Herr v. B., an der Spitze seiner mit Forken, Knitteln und Piken bewaffneten Tagelöhner und Dienstleute daselbst einrückte und das Haus seines Schwagers, des Hauptmanns v. W., überrumpelte oder erstürmte. Dieses Haus bildete eine Ecke von zwei der belebteren Straßen.

Mißlang die beabsichtigte Ueberrumpelung, so wurde Sturm beschlossen, dem aber eine Aufforderung an die Besatzung des Castells, sich gutwillig zu ergeben, vorausging. „Langbeiniger Hund, heraus! Ich schlage Dich sonst in tausend Granatstücke!“ scholl es. Gewöhnlich hatte diese Drohung aber nur die Wirkung, daß der so Aufgeforderte durch anliegende Gärten sich flüchtete oder auch hinterm Schornsteine oder in einem Kamine einen Verteck suchte, selten, daß er die Festung sofort übergab, noch seltener, daß er sch in Vertheidigung setzte. Wurde er schließlich abgefaßt, so wurde er seitens des Herrn von B. mit der Hetzpeitsche „höllisch abkalascht“. Ein oder vielleicht einige Male schleppte man ihn aber auch als Gefangenen nach W., sperrte ihn dort ein und peitschte ihn daselbst in aller Ruhe und Gemüthlichkeit. Wunderbarer Weise suchte der Gemißhandelte nie eine gerichtliche Genugthuung und ebenso mischte sich die städtische Polizei nie in diese Sachen. Dem Herrn von W. wurden übrigens von Niemandem, am wenigsten von seiner Frau und seinen Töchtern, die Auspeitschungen mißgönnt.

Komisch soll nach Erzählungen von Augenzeugen bei diesen Fahrten auch das gewesen sein, daß dem zu Roß den Zug anführenden Kriegsherrn immer sein Jäger Haberdack seitwärts schreiten mußte, ein Lechel (Tönnchen) auf dem Buckel tragend. Alle Augenblicke scholl es: „Habersack, einen kühlen Trunk!“ So vernothwendigte es sich denn, daß das Fäßchen neu gefüllt wurde, bevor man den Rückmarsch antrat. Vom Dursten war Herr von B. überhaupt kein Freund, wohl aber von guten Getränken. Hatte er sich in Wismar ein Fäßchen Wein geholt, so wurde immer schon unterwegs das Spundloch geöffnet und fleißig probirt. Dabei ließ man sich genügende Zeit, wie er und Habersack denn einst mit einem Ohm Rheinwein zwei Tage und drei Nächte von Wismar nach W. unterwegs waren. Selber voll, aber höchst durstig, kamen Herr und Diener schließlich mit leerem Fasse auf der Burg an.




Joseph Staudigl, der berühmte und zuletzt im Irrsinn gestorbene Künstler, sang im Frühling 1853 in Pierson’s Oratorium „Jerusalem“, welches unter Benedict’s Leitung in Exeterhall zu London aufgeführt wurde, und zwar mit so großer Innigkeit und Hingebung an die Tondichtung, daß bei dem schönen und ergreifenden Quintett: „Selig sind die Todten“, im Saale viele Augen voller Thränen standen. Dies mochte nicht eben Wunder nehmen; daß aber über Staudigl’s Wangen ebenfalls die Thränen perlten, mußte auffallen, denn wer so viel singt, ist selbst bei den rührendsten Stellen, wenn er sie ohnedies schon mehrfach gesungen, wohl nur selten eine Beute seiner Empfindungen; im Allgemeinen denkt ja der Sänger immer weniger an die Empfindung, welche die Musik ausdrückt, als an die Mittel, wie er sie am schönsten und correctesten dem Publicum gegenüber zur Geltung bringe.

Als nach der Vorstellung ein deutscher Musiker den ihm befreundeten Künstler nach der Ursache dieser seltsamen Erregung während seines Vortrages fragte, antwortete dieser:

„Es ist etwas Eigenthümliches in dieser Musik. Mich verfolgte dabei gestern außerdem ein eigenthümlicher Gedanke. Vor einigen Tagen speiste ich nämlich bei einer in London lebenden deutschen Familie; später wurde musicirt, und da mehrere Mitglieder derselben gut musikalisch sind und außer mir auch noch eine englische Sängerin da war, sangen wir auch dieses Quintett aus „Jerusalem“. Eine junge, blasse Dame, welche erst nach dem Diner erschienen war und still in einer Ecke dem Vortrage zugehört hatte, brach in Thränen während desselben aus. Auf dem Heimwege sagte mir ein Freund der Familie, daß die Miß ihren Bräutigam durch den Tod verloren habe und sich seitdem in einer Geisteslähmung, einer traurigen Apathie befinde; seit seinem Tode, der vor zehn Monaten erfolgt war, hatte sie noch keine einzige Thräne gefunden, die ihren Schmerz erleichtert, ihre Apathie gebrochen hätte. Die Thränen nun, welche ihr der Gesang entlockt, gaben die sichere Hoffnung der Genesung von ihrer bedenklichen Melancholie. Und seitdem verfolgt mich der Gedanke, daß ich auch einmal in meinem Geiste zerstört sein werde; wieder und immer wieder drängt er sich mir auf, und als ich gestern das Quintett sang, sagte ich aus innerstem Herzen zu mir: ‚Sänge man doch über meinem Sarge dieses rührende Quintett!‘“

Und sein Wunsch ward erfüllt, wie sich seine unheilvolle Ahnung erfüllt hatte. Bald darauf deckte die Nacht des Irrsinns den großen Sänger.


Deutsche Blätter, literarisch-politisches Sonntagsblatt (auch Beiblatt zur Gartenlaube), 1865 enthalten in ihren neuesten Nummern:

27. Das Opfer des Ministers. – Umschau: Unsere leeren Kirchen. – Ein Artikel, der uns spanisch vorkommen wird. – Literarische Wochenschau.

28. Ein alter und doch recht zeitgemäßer Brief. – Umschau: Der feudale Poststaat. II. – Der Tropfenmesser. – Deutsch-Russisches. – Wind-Eisenbahnen. – Literarische Wochenschau.

29. Ein Abend bei Julius Mosen. – Umschau: Aus dem Reiche der Geister. – Eine Revolution. – Das Jubiläum der Burschenschaft in Jena – Literarische Wochenschau.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_480.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2019)
OSZAR »