verschiedene: Die Gartenlaube (1865) | |
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„Du, Balthasar,“ redete ihn der Förster, auf ihn aufmerksam geworden, an. „Balbina war ja krank und Du sollst zu ihr gerufen worden sein!“
„Ja, ja,“ stotterte der Wunderdoctor, aus einer peinlichen Verlegenheit in die andere geworfen. „Es war ein starkes Fieber da, sie hat auch ein wenig Irrreden geführt, aber gestern war sie schon ruhig und die Besserung war vorauszusehen!“
Ohne sich länger aufhalten zu lassen, entfernte er sich mit großen Schritten, voll Angst, noch dem Leonhard in den Wurf zu kommen.
Es war schon spät geworden. Die Hähne krähten bereits lange im Hofe. Ein bedeutender Theil der Gäste war schon verschwunden und der Rest machte sich auf den Heimweg, denn die Tanzmusik hatte auf des Stegwirths Geheiß zu spielen aufgehört. Das Hochzeitsfest war aus und das junge Ehepaar begab sich endlich hochvergnügt nach der Schlafkammer, von den Schwiegereltern und einigen Verwandten geleitet. Der Eingang zur Schlafkammer war mit Blumen und Namenszügen auf’s Festlichste decorirt, und Brigitta, der es ausnehmend gefiel, sprang voran, um ja schnell die Ausschmückung im Innern in Augenschein zu nehmen.
Kaum hatte sie die Thür aufgeschlagen, so that sie einen Schrei und fiel ohnmächtig zusammen. Zwischen der Thür und dem Bette, über welchem lange Rosenguirlanden herabhingen, hing auch Leonhard an einem Kleiderhaken aufgeknüpft. Neben ihm an der Wand war seine blutige Hand abgedrückt.
Brigitta kam bald nachher zu sich, verblieb aber in einem sehr aufgeregten Zustande, in welchem sie sich schwere, freilich unbegründete Gewissensbisse machte. Sie war vorerst nicht zu trösten und nicht zu bewegen, die Nacht in diesem Hause zuzubringen.
Sobald Leonhard’s Ende ruchbar geworden war, säumten seine Gläubiger nicht lange, kund zu thun, daß nicht Liebesgram, sondern große Ueberschuldung das Motiv seiner That gewesen war. Bis zu dieser Beleuchtung der Sache hatte sich Brigitta mit Vorwürfen gequält und sich gescheut, den Fuß in’s Wirthshaus zu setzen, nun aber war ihr Gemüth mit einem Schlage heiter geworden und sie konnte endlich die Wirthin zu spielen anfangen. Das Ehepaar hatte in der That eine schaurige Reihe von Klippen übersteigen müssen, ehe es ihm gelungen war, sich zu arrondiren.
Hinter der Kirchhofsmauer des Franciscanerklosters in ungeweihter, ja durch die Erinnerung an die dort Verscharrten verfluchter Erde lagen aber auch schon die beiden Unglücklichen, welche selbst die Hand an sich gelegt, der wilde Leonhard und die schöne Balbina, nebeneinander begraben. Auch diese Zwei waren arrondirt.
Die Phantasie des Volkes, die sich mit düsteren Ereignissen lange beschäftigt, besonders im Hochgebirge, wo es so alltäglich hergeht und nicht, wie in den Städten, eine Neuigkeit die andere jagt, hatte bald erfunden, daß es hinter der Kirchhofsmauer allnächtlich umgehe.
Es ist gebräuchlich, Gespenster um Mitternacht erscheinen zu lassen, hier – seltsam – sollte sich der Geist kurz vor der Morgendämmerung einstellen und eine Zeit lang auf den Selbstmörder-Gräbern aufhalten.
Es war ein wildfremdes, mit den hiesigen Verhältnissen ganz unbekanntes Weib, welches bald darauf erzählt hatte, daß es den Wiesenweg an der Kirchhofsmauer, wo die berüchtigte Stelle ist, kurz vor Sonnenaufgang gegangen sei und dort in kleiner Entfernung eine Gestalt gesehen habe, welche nackt und mit Striemen bedeckt war und blitzschnell in die Erde versank.
Dieses Zeugniß, gleichsam aus einem unbefangenen Munde, mußte die größte Sensation erregen, aber in kurzer Zeit schlief wieder Alles ein, da Niemand seither den Geist wieder gesehen hatte. Dennoch war die Aussage des fremden Weibes nicht aus der Luft gegriffen.
Eine kurze Zeit darauf, als das Weib die Erscheinung gesehen zu haben behauptete, kam einer der Väter aus dem Kloster des Weges daher, vom Pfarrer von Burgsau bestellt, eine Morgenmesse aushülfsweise zu lesen. Es war schon tageshell. Da sah er einen entkleideten Körper, der auf dem Gesichte lag, auf der Grabstätte der Selbstmörder vor sich. Daneben lag eine vielschwänzige lederne Peitsche, einige Kleidungsstücke, darunter eine Franciscaner-Kutte. Der Rücken des Körpers war von Hieben entstellt. Der Hinterkopf zeigte die Tonsur.
Der Mönch brachte den Unglücklichen in sitzende Stellung, indem er ihn mit dem Rücken an die Mauer lehnte, und sobald er das Gesicht erblickt hatte, erkannte er einen Ordensbruder, den Frater Peregrin, welcher das vielangestaunte Wandgemälde in der Kapelle vollendet hatte. Frater Peregrin war Balbina’s ehemaliger Liebhaber Veit und Schmierpeters Schüler. Es war ein schrecklicher Weg, welchen er zurückgelegt hatte, seit er der Werkstätte seines schlichten Meisters in Burgsau entlaufen war, bis zu dem Moment, da er jetzt auf dem Grabe seiner einstigen Geliebten gefunden wurde.
Nach dem unglückseligen Vorfall auf der Oberanger-Alm hatte er, von Entsetzen erfüllt, an der Zukunft einer großen, sein ganzes Wesen verschlingenden Liebe verzweifelnd, die Flucht ergriffen, ohne bedacht zu haben, wohin er sich wenden werde. Er war damals vierundzwanzig Jahre alt. Nach kurzem Herumirren hatte er die Richtung seines Weges gefunden und beschlossen, nach Wien zu gehen, wo ein berühmter Maler wohnte, welcher sich im vergangenen Sommer im Burgsauer Gebirge längere Zeit aufgehalten hatte.
Dieser Künstler hatte Veit liebgewonnen und auch dessen Talent durchblickt und ihm den Antrag gestellt, daß er ihn mitnehmen und für seine Ausbildung sorgen werde. Veit wäre damals sogleich mit tausend Freuden mitgegangen, hatte sich aber, von Balbina gefesselt, vorerst dafür bedankt. Jetzt, da die Liebesbande so schrecklich gesprengt waren, hatte er seinen Gönner aufgesucht und war von ihm auf das Herzlichste empfangen worden. Veit hatte in kurzer Zeit in solcher Schule erstaunliche Fortschritte in seiner Kunst gemacht, aber sein Gemüth hatte den empfangenen Schlag nicht zu überwinden vermocht. Schmerz über die gewaltsam gebrochene erste Liebe, gesteigert durch angeborene künstlerische Excentricität, und endlose Rückblicke auf die Oberanger-Alm, unterwühlten seine Seele, welche dadurch aus dem Gleichgewichte kam und in dem Bewußtsein, es nicht wieder zu erringen, sich verzweiflungsvoll noch rascher kopfüber stürzte.
Veit begann ein tolles Leben in Saus und Braus, welches seine Gesundheit untergraben half, so daß er vor anderthalb Jahren, mit sich zerfallen, weltmüde und körperlich leidend, in ein Franciscanerkloster trat.
Nicht lange darauf hatte er gehört, daß die Kapelle in Burgsau, wo seine Gedanken zu seinem Verderben am liebsten verweilten, restaurirt werden sollte, und er bot sich an, den Carton eines jüngsten Gerichts, den er dem Guardian zugesandt hatte, in Farben auszuführen. Seitdem hatte er in Burgsau gelebt und sein täglicher Weg war aus der Zelle in die Kapelle. Der Guardian, welcher allein seine Abkunft kannte, begünstigte die Heimlichkeit seines Aufenthaltes, die sich Veit als alleiniges Honorar ausbedungen hatte.
Er war also das Gespenst, welches seit Balbina’s Bestattung allnächtlich an der Kirchhofsmauer spukte. Da büßte er die Sünden seiner Jugend, indem er an dem Grabe des Weibes, das er verführt und dessen Unglück er veranlaßt hatte, trauerte und die Vergangenheit seines noch jungen, kaum begonnenen Lebens mit der Büßergeißel strafte. Heute schien ihn eine Ohnmacht überrascht und an der heimlichen Rückkehr gehindert zu haben.
In seine Zelle zurückgebracht, kam er wieder zu sich. Sein erstes Wort waren Vorwürfe, warum man ihn in’s Leben zurückgeschleppt habe. Wenn ihm aber der Klosterarzt, der ihn behandelte, die volle Wahrheit hätte sagen dürfen, so würde er zu seinem Troste erfahren haben, daß seine Tage gezählt waren. Von nun an strenger überwacht, konnte er den nächtlichen Ausgang nicht unternehmen, und daher sahen die Burgsauer die Erscheinung an der Kirchhofsmauer nicht mehr.
Die Klosterbrüder betrachteten den am Leib und an der Seele Kranken mit verschiedenen Augen, doch so, daß allem Entsetzen vor dem Sünder, den ein mysteriöses Verbrechen zu foltern schien, auch Mitleid im reichsten Maße beigemischt war. Der Guardian war jedoch nicht allein von einem rein menschlichen Gefühle und Interesse bewegt. Er, als Kunstkenner und Kunstfreund, fühlte die schmerzvolle und zugleich erhabene Erschütterung, daß ein seltenes Kunstgenie, welches dem Tode nie verfallen sollte, im Gegentheil gar so frühzeitig und gar so jämmerlich ende.
„Die Vorsehung ist wunderbar und unerfaßlich,“ sagte er
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_484.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)