verschiedene: Die Gartenlaube (1865) | |
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No. 33. | 1865. |
Die Gräfin sah den Doctor plötzlich mit fast wilder Freude an. Eine eigenthümliche Lust bebte durch ihr ganzes Wesen, ein seltsamer Uebermuth ergriff sie.
„Ich verzichte auf jede Ausnahmestellung, die mein Geschlecht mir geben soll.“ sprach sie schnell, „ich erkenne gar keine solche an. Ich nehme es für ein Zeichen der Verachtung, wenn Sie eine solche mir unterstellen wollen, und um Ihnen die Sache zu erleichtern, um Ihnen auch den Beweis zu geben, daß ich keine Verachtung verdiene, werde ich mich – und ich darf das mit vollem Rechte – werde ich mich als beleidigt betrachten und selbst die von Ihnen bezeichnete Forderung stellen. Wehe aber Ihnen, wenn Sie mir die Genugthuung verweigern! Ich würde Sie für den erbärmlichsten Feigling halten und Sie als solchen behandeln, überall, wo ich Sie fände.“
Da wallte auch in dem Doctor eine übermüthige Kampflust auf. „Nun, wahrhaftig!“ entgegnete er, „an mir soll’s nicht fehlen, Frau Gräfin, wenn Sie wirklich –“
„Ihr Wort darauf!“ Sie hielt ihm energisch die Hand entgegen.
„Mein Wort darauf,“ damit legte er seine Hand fast feierlich in die dargebotene, und sie schauten sich einander wie triumphirend an. Sie schienen gar keine Idee von dem schweren Ernst, gar keinen Blick für das Ueberspannte ihrer ganzen Situation zu haben. Sie waren wie große Kinder, ein Jedes glaubte, es handle sich hier um die Ehre seiner Partei, und ein Jedes brannte darnach, dem vor ihm sitzenden Gegenstand seiner Liebe und seines Hasses mit der Waffe gegenüberzutreten.
In diesem Augenblicke riß Wilhelm den Schlag auf und der Graf stürzte an den Wagen hin, die nach ihm ausgestreckten Hände seiner Schwester heftig erfassend und mit Staunen und Spannung zu ihr aufschauend. Wilhelm hatte den Grafen bemerkt, als derselbe aus dem Ministerium gekommen war und sich nach seinem Wagen umsah. Unwillkürlich war ihm ein Freudenruf entfahren, in einem Nu war er von seinem Sitze ab- und zum Grafen hingesprungen. Dieser hatte in demselben Augenblick höchlichst verwundert seine Equipage bemerkt, jetzt rief Wilhelm ihm zu, daß die Frau Gräfin Schwester in dem Wagen sitze. Tiefbewegt von widerstrebenden Gefühlen eilte der Graf seiner Schwester entgegen, da erblickte er auch den Doctor; das war ihm ein gutes, liebes Zeichen, er wußte nicht gleich, für was; aber es machte ihn wieder leicht und heiter, und noch halb auf dem Tritt, halb im Wagen stehend, umfaßte er die Schwester und dann den Freund in liebevollster und liebenswürdigster Heiterkeit. Beide hatten sich einen verständigenden Blick zugeworfen, als der Graf erschienen war; dieser Blick mahnte Verschwiegenheit. und die Mahnung half ihnen hinweg über die Spannung des Augenblicks. Indeß setzte das Gebahren des Grafen sie doch in eine gewisse Verlegenheit. Der Doctor hielt es für angemessen, die Geschwister allein zu lassen, allein nach so langer Trennung, nach so unerwartetem Wiedersehen. Der Graf bat zwar herzlich. daß er bleiben, mit in’s Hotel zurückfahren möge, allein Ludwig lehnte es ab. Die Gräfin sagte kein Wort dazu, und mit einem „Auf baldiges Wiedersehen„“ stieg der Doctor aus und gab dem Kutscher ein Zeichen zum Weiterfahren. Der Graf sah seine Schwester fragend an, der Blick, den sie dem Aussteigenden nachwarf, hatte etwas so Eigenthümliches und der Ausdruck ihres Gesichtes selbst war mit einem Male so verändert, daß Bernting keine Lösung für das Räthsel hatte.
Die Grafin war in Madrid plötzlich Wittwe geworden. Sie war eher nach Deutschland zurückgekehrt, als die Zeitungen von dem Todesfall ihres Gemahls berichten konnten. In der Hauptstadt ihrer ursprünglichen Heimath hatte sie zunächst nach ihrem Bruder gefragt und ohne sich halten zu lassen, war sie ihm nach D. nachgeeilt und dort angekommen, als Bernting eben zu seinem Freunde gereist war. Dies erzählte sie ihm noch im Wagen, dazu auch ihren gestrigen Gang zur Eisenbahn, ihre heutige Fahrt zum Gesandtschaftshotel. Aber kein Wort von dem Doctor und kein Wort auch von der Wandlung in ihrem Wesen. Warum sie gerade ihn so sehnsuchtsvoll gesucht, so liebevoll erwartete, gerade ihn, dem sie früher sich fast feindlich gezeigt, um den sie dann nie wieder sich gekümmert hatte, so fragte sich der Graf, während er die Schwester aus dem Wagen hob und diese ihn bat, sie auf kurze Zeit allein zu lassen. Die Einsamkeit, wenn auch nur auf eine Viertelstunde, war ihr jetzt Bedürfniß. Der Bruder ließ sie gewähren, und nun gingen alte und neue Vergangenheit, Gegenwart und nächste Zukunft mit tausendfachen Erinnerungen und Schmerzen an ihr vorüber, und all die heftigen Widersprüche in ihrem Wesen regten sich, die verschiedenartigen Geister und Dämonen, die sich von früh an in ihr gestritten.
Sie war Aristokratin durch und durch, aber sie hatte Sympathie für das Volk. Nur das vornehme, reiche Bürgerthum war ihr
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 513. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_513.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)