Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1865) 514.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

zuwider, jenes staatliche Mittelding, wie überhaupt jedes Mittelding. Dabei sah sie aber auch täglich mehr und mehr die Zerklüftung und Zerfahrenheit, das Hohle, Lügenhafte und Verbrecherische in ihren eigenen Kreisen und in ihrer nächsten Umgebung. Sie wußte oft gar nicht, wohin sie schauen solle, was sie glauben, hoffen und denken dürfe. Sie war eben nach vielen Seiten hin ein Wesen zwiespältiger Art, das nur wenige erkannten und begriffen, sie wurde darum wenig geliebt, desto mehr aber mit scheuer Strenge oder leichtfertiger Gleichgültigkeit betrachtet und behandelt. Sie hatte die höchsten Ideen von der Ehe in sich getragen und sie wurde eine standesgemäß gekaufte und verkaufte Frau, ehe sie eigentlich recht wußte, was eine Frau bedeute, ehe sie Besinnung genug gewonnen, sich solcher Schmach zu entziehen. Und als sie derselben verfallen, oder vielmehr, als sie zum Bewußtsein derselben gekommen war und in fremdem Lande ohne irgend einen Freund und Helfer ganz einsam und verlassen an der Seite ihres kalten, frivolen, egoistischen Käufers und Despoten stand, da hielt sie dieser mit hundertfachen Netzen und Banden der Arglist und der Formen, der Gewalt und des Gesetzes so fest umstrickt, daß all ihr Stolz und ihr starker Wille, all ihr Schmerz und Zorn, all ihr Flehen und Drohen vergeblich waren.

Erst als sie der jähe Tod ihres Gatten freigemacht hatte, fühlte sie sich leben, sich selbst wiedergegeben. Das Leben sollte nun ihr gehören, ihrem Triebe gehorchen. Frei wollte sie sein, wie das Element, stolz sich erheben nach so langer Schmach, über die Welt hinwandeln mit all dem Hohn, unter dem sie selbst so lange gelitten hatte; bitter verachten, was nicht groß und stolz war wie die Seele, die sie einst der Welt entgegengetragen hatte. Aber sie wollte auch handeln, Schönes und Segensvolles oder Kühnes, Großes thun. Und lieben, so recht aus tiefstem, vollstem Herzen lieben, doch nur einen ganzen, vollen, freien Mann, der anders war, als alle die, welche sie bis jetzt gekannt hatte. Besser, edler, größer aber als sie Alle war ihr Bruder immer gewesen, wenn er auch für jenes Halbe und Falbe gewirkt hatte, was ihr als Lüge und Feigheit so verächtlich erschien. So drängte es sie mit unwiderstehlicher Macht hin zu diesem Bruder, als könne sie an seiner Seite irgend ein Schönes oder Kühnes vollführen, an seinem Herzen die Liebe finden, die sie so sehnsuchtsvoll suchte. Zugleich wollte sie mit unerbittlicher Strenge die Männer prüfen, die ihren Bruder umgaben, die ihn abwendig gemacht hatten von seinem angestammten absoluten Königthum und dem Wappenschild seiner Ahnen, jene lügnerischen Halbgeister, die, wie sie meinte, der Zeit und dem Volke nach beiden Seiten hin des Lebens Nerv durchschnitten, aus streng gehorsamen Unterthanen lügenhafte Phrasenmenschen geschaffen und ihnen die Kraft geraubt hatten, wahrhaft freie Bürger zu sein und sein zu wollen.

Der gefährlichste unter ihnen war, das wußte sie, der nächste Freund ihres Bruders, Doctor Ludwig, denn sie hatte auch in der Fremde sein Wirken so genau wie möglich verfolgt, sie hatte sich ihn in allen möglichen Erscheinungen gedacht, sie hatte versucht, sich ihn aus ihren allerersten Jugenderinnerungen als ihren Landsmann vorzustellen, sie hatte einen ganz eigenthümlichen Zorn auf ihn, ein ganz seltsames Mißtrauen gegen ihn; sie sah mit dem gespanntesten Interesse ihm entgegen, und sie wollte ihn erdrücken mit der Wucht ihres Stolzes und Hohnes.

Mit solchen Gedanken und Vorsätzen kam die Gräfin Mathilde von Timmelskirch nach D., fuhr sie ihrem Bruder entgegen, lernte sie den Doctor Ludwig kennen, um an ihn die merkwürdige Forderung zu richten. „Kann es, darf es denn nun wirklich sein, das Unerhörte, das fast Unnatürliche?“ fragte sie sich, als sie allein in ihrem Zimmer war. „Es soll, es muß, es wird sein!“ fuhr sie trotzig fort, die Hand ballend. „Und was ist denn unnatürlich daran? Nichts anderes, als die Furcht und die Feigheit, die kleinliche, erbärmliche Form, die es als unnatürlich erscheinen läßt. Ich verachte solchen Schein. Ich will ein Beispiel geben, daß ein Weib nicht beleidigen soll, wo es nicht auch Genugthuung zu geben bereit und befähigt ist. Ihm bin ich das schuldig und ich müßte mich sehr täuschen, oder er ist stark und bedeutend genug, sein Wort mir zu halten. Es soll der Prüfstein seiner Art sein, ob er es thut. Und wenn er – ha!“ Ihr Auge blitzte, wie eine Siegesgöttin stand sie da. „Doch mein Bruder,“ warf sie sich, plötzlich wieder nachdenklich, ein, „was wird er dazu sagen? Er wird es nicht dulden. Nein! nein! Das wäre Feigheit! Wie kann mein Bruder es wehren? Er muß es dulden und er wird es, oder er ist nicht der, den ich in ihm erwarte, der er sein kann, sein soll. Ja, soll!“

Wieder sann sie leise nach, den Kopf sanft gebeugt, und ihr Auge erglänzte mild und seelenvoll. Da klopfte es leise an; sie wußte, daß es ihr Bruder Leopold war, und öffnete ihm die Thür. Liebend, glücklich weinend und träumend lag sie an seiner Brust, und dann erzählte und erklärte sie ihm, anfangs scheu und gepreßt, dann immer freier, rascher und feuriger, Alles, was soeben an ihrer Seele vorübergezogen war, was ihr Sinne, Herz und Geist so mächtig bewegt hatte. Der Bruder horchte auf, jetzt war er wort- und rathlos; er konnte das seltsame Wesen nur fester und fester in seine Arme schließen und konnte nur mit Bangen des Freundes gedenken, der plötzlich so wundersam schrecklich in das Leben seiner Schwester getreten und von dieser in ihr eigenes Schicksal hineingerissen worden war.




5.

In so tiefem Ernste hatten die Freunde noch nie zusammen gesessen; so schwer umwölkt waren nie ihre Stirnen gewesen, als jetzt, am Abend des verhängnißvollen Tages, wo sie auf dem Zimmer des Doctors das unerhörte Duell besprachen, welches zwischen der Gräfin und dem Doctor stattfinden sollte. Die Gräfin bestand mit fast fanatischem Eifer darauf. Sie hatte mit leidenschaftlicher Hast es dem Grafen zur Pflicht des Bruders, des Freundes, des Cavaliers gemacht, ihr Secundant zu sein und ihre Forderung dem Doctor zu überbringen. Sie hatte diesen an sein fest und feierlich gegebenes Wort und an seinen Handschlag erinnern lassen. Sie hatte mit der siegenden Gewalt kühner Gedanken und begeisterungsvoller Beredsamkeit die mannigfachen Bitten und Gründe, Betheuerungen und Beschwörungen ihres Bruders wenigstens zum Schweigen gebracht und mit dem Schlimmsten gedroht, wenn man sie zurückweise. Das Alles hatte der Graf seinem Freunde mitgetheilt, natürlich auch nicht verfehlt, ihm dies Außergewöhnliche aus dem Geständnisse zu erklären, welches die Gräfin ihrem Brnder an dem denkwürdigen Morgen gemacht hatte. Ludwig hatte schweigend zugehört und dann einfach und bestimmt gesagt: „Ich habe ihr mein Wort gegeben und wenn sie’s verlangt, so halte ich’s.“ Damit trat das, was bisher gleichsam nur wie eine Idee vorgeschwebt hatte, schon mehr und mehr in das Gebiet der Thatsache ein. Wie nach einer unsicheren Hoffnung haschend, fragte jetzt der Graf: „Sollte sie uns aber nur auf die Probe stellen wollen? Nicht schon zufrieden sein, wenn dieselbe bestanden würde?“

„Das glaube ich nicht,“ antwortete Ludwig.

„Ja, ja, ich meine auch, daß Du Recht hast. Aber würde sie nicht vielleicht erschreckt zurückweichen, wenn der wirkliche, volle Ernst der Sache an sie heranträte?“

„Das glaube ich noch viel weniger.“

„Hm, hm! Und daß wir sie anführten, eine kleine Komödie mit dem Pistol arrangirten –“

„Das wäre unser Aller unwürdig.“

„Freilich, freilich! Es war auch nur so ein Gedanke, den mir die schmerzlichste Rathlosigkeit eingab.“

Der Graf sprang auf und ging sinnend mit schnellen Schritten im Zimmer auf und ab. Doctor Ludwig beobachtete jeden seiner Schritte, ohne es zu wissen, in tiefes Nachdenken verloren. Nach und nach wurde sein Auge freier, seine Stirn entwölkte sich.

„Ich glaube, mein Freund, Du nimmst die allerdings sehr ernste Sache doch zu ernst,“ sagte er, „oder vielmehr, wie soll ich mich nur ausdrücken? nun, zu unnatürlich und zu unglückselig. Nach Allem, was ich von dem merkwürdigen Charakter Deiner Schwester jetzt weiß und verstehe, glaube ich, daß hier ein bedeutsamer Krankheitsproceß nur seinen ganz natürlichen Verlauf nimmt und durch eine entscheidende Krise der schönsten Lösung entgegengehen kann.“

„Ich verstehe Dich und muß Dir im Allgemeinen Recht geben. Aber die Krise selbst?“

„Die Krise selbst muß das Duell sein. Es kann ein Klärungs- und Läuterungsproceß ihrer Seele, ein befreiendes Moment ihrer ganzen Vergangenheit werden. Es giebt Wesen, bei denen das Ungemeine oft das Natürlichste ist. Und Deine Schwester ist solch ein Wesen.“

„Leider, leider! Doch es kann ja wirklich zu einer glücklichen, heilbringenden Krise führen. Aber – ach, es kann ja auch schrecklich werden!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_514.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)
OSZAR »