verschiedene: Die Gartenlaube (1865) | |
|
„Und Du verlangst es nicht?“ fragte der Graf den Doctor.
„Wie könnte ich das, ohne uns Beide mit Verachtung zu strafen!“
„Du willst auch jene Bitte und Erklärung nicht stellen?“
„Für mich – o ja! Aber ich darf es nicht für sie. Es wäre eine zu große Demüthigung für die Dame selbst.“
„Gewiß! Und das ist groß gedacht!“ rief die Gräfin begeistert aus.
„An Eure Plätze!“ befahl der Graf. Die Gegner stellten sich auf.
„Richtung!“ Wie angewurzelt standen Beide und ihre emporgehobenen Pistolenläufe blitzten im Sonnenstrahl über die bleichen Gesichter. Auf einmal wies die Gräfin mit der Hand nach der Richtung, wo ihr Bruder stand, und rief ein tönendes „Halt!“ Dann schritt sie mit sicherer Ruhe dem Doctor entgegen und fragte den Erstaunten mit gelassener Festigkeit: „Würden Sie unbedingt auf mich schießen, wie auf jeden anderen Gegner? Ihr Ehrenwort!“
„Auf mein Ehrenwort – Ja!“ entgegnete der Doctor mit kalter Ruhe. Sie zuckte leise zusammen und trat unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück, doch blieb ihr Auge auf seinem Antlitz haften, während sie sprach: „Also doch! Aus Haß?“ frug sie rasch.
„O nein! Wahrlich nein!“ erwiderte der Doctor mit bewegtem Ton, und indem er der Gegnerin etwas näher trat und seine heißen Blicke aus sie richtete, sprach er mit erhobener Stimme: „Ich thät’s aus Achtung, aus Mitleid und in Hoffnung für Sie. Eine Donquixoterie mag es sein; ich will sie ihretwegen gern begehen: aber es darf keine possenhafte Komödie werden; das wäre unser Beider nicht werth. Entweder – oder!“
Die Gräfin sah den Sprecher mit wunderbarem Glanz in ihren Augen an. Dann wiederholte sie halblaut:
„Entweder – oder … Aber wenn Sie mich tödteten?“ fragte sie heftig.
„Dann haben Sie selbst es gewollt. Ich konnte, durfte nicht anders. Ich würde unglücklich sein für mein Leben, aber ich würde mir keine Schuld, wenigstens keine Blutschuld vorwerfen.“
„Aber wenn ich Sie tödtete?“
„Ich habe mein Leben leider schon an nichtigere Dinge gesetzt als daran, ein Wesen wie Sie sich selbst, der Welt und wer weiß noch welch’ Schönem und Großem zu retten oder wiederzugeben, und ich sollte meinen, das wäre schon des Preises werth.“
Wie von einem großen Entschluß verklärt, so stand die Gräfin jetzt vor dem Doctor.
„Sie müssen Ihr Leben an ein viel Höheres setzen,“ sprach sie, „an die volle und wahrhaftige, an die höchste Freiheit des Vaterlandes und der Menschheit. Und zu diesem erhabenen Berufe reiche ich Ihnen meine Hand als Parteigenossin dar!“ Sie streckte dem Doctor ihre Hand entgegen mit der Sicherheit einer Siegerin und Herrscherin. Der Doctor erbebte wie elektrisch berührt und schon zuckte seine Hand der dargebotenen entgegen, aber im nächsten Moment stand er wieder ruhig da und sprach, wenn auch mit tiefer Bewegung, so doch fest und klar:
„Die Regung, welche Ihre Hand uns darbietet, Frau Gräfin, deutet eine schöne Seele an. Aber eine Regung darf nicht bestimmend sein für so unendlich wichtigen Entschluß und eine edle Seele bildet noch keinen Charakter. Wenigstens keinen solchen, wie die Nation ihn verlangen muß. Diese schöne Regung steht auch noch im Widerspruch mit der ganzen Haltung, mit der Sie uns ihre Hand anbieten. Sie thun das mit dem triumphirenden Gefühl einer aufopfernden, herabsteigenden Güte, mit dem stolzen Bewußtsein, das Füllhorn unendlicher Gnade über uns auszuschütten, uns einen glorreichen Beweis Ihres freien Willens zu geben. Das Alles aber kann das Volk nicht brauchen. Erst wenn Sie durch die wahrhaftige Menschenliebe zur Liebe des Individuums, durch die wahrhaftige Demuth zum wahrhaftigen Stolze gelangt sind, erst wenn Sie darauf sich stolz fühlen, als Tochter der Nation und als Genossin der Partei anerkannt und gewürdigt zu werden – erst dann, wenn die eben empfundene schöne Regung ein Festes, Dauerndes und Ihre edle Seele zu einem Charakter geworden ist: erst dann kann die Partei Ihre Hand annehmen. Aber nicht eher.“
Unbeschreibbar war es, was in diesem Augenblick durch das Herz der Gräfin stürmte. Alle die verschiedenen Elemente und Leidenschaften, die so lange in ihr gekämpft, schienen mit einem Male in ihr aufgestanden zu sein zum heftigsten Kampfe.
Staunend hatte Bernting der ganzen Scene gelauscht und harrte nun bange der Krise, die aus dem seltsamen Begebniß hervorgehen mußte. Finsterer als je, zogen sich die Brauen der Gräfin zusammen; dichter als je deckten die Wimpern den Glanz ihrer Augen; stolzer, strenger als je warf sie den Kopf zurück und die Hand empor, und indem sie ausrief: „Zur Sache!“ schritt sie mit gehobener Pistole wieder zurück zu dem ihr angewiesenen Stand. Der Doctor schloß rasch und fest die Augen, drängte einen aufsteigenden schweren Seufzer zurück und trat auf seinen Platz. Und wieder ertönte durch die Grabesstille das schauerliche Wort: „Richtung!“ Und wieder blitzten die emporgewendeten Läufe im zitternden Strahl der Sonne den bleichen Gesichtern entgegen. Da aber ließ die Gräfin ihre Pistole fallen und trat zu dem Doctor heran.
„Es wäre grausam,“ sprach sie in heiterer Klarheit, „wenn ich Sie zwingen wollte, Ihr Wort zu halten, zwingen wollte, auf einen Menschen, auf ein Weib, auf mich zu schießen. Es wäre erbärmlich, wenn ich nicht lieber den Verdacht der Furcht und Feigheit auf mich laden, nicht lieber lächerlich erscheinen wollte, als auf meinen Willen zu bestehen. Ich will doch lieber ein Weib als eine Amazone sein und ich will Ihnen gern bekennen: Sie haben mich bezwungen, mich beschämt. Sie haben mich furchtbar erschüttert, mir unbeschreibbar wehe gethan, aber Sie haben mich auch gekräftigt, erhoben und beglückt und mir den Weg und das Ziel gezeigt, den zu wandeln und das zu erreichen nun die Aufgabe meines Gebens sein soll. Ich werde lernen so zu lieben, so demüthig zu sein, wie es werth ist Ihrer und der großen Sache, die Sie vertreten. Und bis dahin – Ihr Freunde – seid auch meine Freunde – meine Führer und Berather!“ Sie streckte nach links und rechts ihre Hände aus, anzuschauen wie eine holde Göttin, die ihre trauten Gaben liebevoll ausstreut. Rasch ergriffen Bruder und Freund die dargebotenen Hände und küßten sie, ehrerbietig und bewegt. Der Doctor war fast erschrocken vor der Seligkeit, die da plötzlich vor ihm aufging, es war ihm, als müsse er vor der so herrlichen Erscheinung leise sein Knie beugen, und inbrünstig um Verzeihung bitten für das, was er ihr angethan. Natürlich that er’s nicht, aber sein Auge sprach es aus und der Blick der Gräfin verstand diese Sprache, und sie erröthete und wandte sich ab zu ihrem Bruder, der sie in seine Arme schloß. Da glitt auch über des Doctors Antlitz ein schönes Roth, das schönste, welches wohl je ein Antlitz schmücken kann, und ein eigenthümliches Lächeln über sie Alle, als der Graf die Pistolen wieder in die Cassette legte und dieselbe verschloß. Es geschah schweigend, und schweigend gingen die Freunde durch das Gehölz ihren Wagen zu.
Der Doctor reiste noch an demselben Morgen zurück nach seiner kleinen Residenz. Vor der so verhängnißvoll gewordenen Zwischenstelle E. verließ er die Eisenbahn und fuhr durch neutrales Gebiet mit der Post. Diese rasche Abreise nach so schön geschlossenem Frieden und nach so herrlich gewonnenen Beziehungen möchte für Viele befremdend sein. Die drei Betheiligten aber fanden es, Jeder nach seiner Weise, so ganz natürlich, so ganz sich von selbst verstehend, daß gar nichts weiter darüber gesprochen wurde, daß Entschluß und Ausführung nur Eins waren und man zwar gut und herzlich, doch wie nach einer lang vorbereiteten Absprache sich trennte.
Der Doctor fühlte sich jedoch schon bald immer einsamer und schwermüthiger, und nur die zeitweiligen Besuche und Briefe des Grafen und der Gräfin konnten ihn auf kurze Zeit jener Stimmung entreißen. Man will indessen bemerkt haben, daß diese Briefe und Besuche sich mehren und mehren, immer rascher hintereinander folgen. Ebenso will man wissen, daß der Doctor immer glücklicher ist und daß die Gräfin immer einfacher wird, immer milder und liebevoller die Welt und die Menschen betrachtet und behandelt. Endlich will man bemerkt haben, daß die Gräfin ihre ganze Kraft und Thätigkeit den höchsten Interessen des Vaterlandes widmet und daß der Doctor bereits die Ueberzeugung hat, daß sie ein Charakter geworden und würdig sei, die große Aufgabe der Zeit mit lösen zu helfen.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 516. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_516.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)