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Seite:Die Gartenlaube (1866) 047.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

des Burgthurmes. Welch’ herrliches Panorama lag da mit einem Male vor und unter uns ausgebreitet!

In einer Tiefe von mehr als achthundert Fuß dehnt sich in sonnigem Grün eine Thalwiese aus, durch die munter der Waldbach der Echatz strömt. Der Kirchthurm und die Häuser von Honau, welche jene zum Theil umrahmen, blicken aus dem Grün wie lichte, glänzende Punkte hervor. Rechts und links umlagern das Thal waldbekränzte Bergketten, Höhen der schwäbischen Alb, die sich weit in’s Land hineinziehen und aus denen hier und da starre, nackte Felsen heraustreten. Weiter in der Ebene liegen grüne Triften mit lachenden Dörfern und Obstpflanzungen, während nördlich in der Ferne und in bläulicher Färbung sich der hohe Bergrücken der Achalm bei Reutlingen erhebt, hinter dem sich der Horizont mit den Stuttgarter Höhen im zartesten Farbenduft schließt.

Wie weit kann das Auge schweifen! Wir möchten uns nicht trennen von diesem Punkte, wo aus der herrlichen Natur das Gottesauge uns so recht in die Seele sieht, das Herz aufgeht in freudiger Erhebung. Es war unendlich still und geheimnißvoll da oben. Eben klang eine Glocke herauf, deren fromme Töne durch die feierliche Sonntagsstille zitterten, eine andere Glocke antwortete und bald klangen ihrer mehrere in tiefen und hohen Stimmen aus Nah und Fern, aber alle aus dem Thale empor. Jene alte Zeit, wie sie Hauff schildert, schien wieder erwacht zu sein.

Man könnte, in dem Anblick dieser wundervollen, romantischen Landschaft versunken, davon träumen, da unten zwischen den grünen Baumwipfeln in lichter Gestalt das schöne Fräulein von Lichtenstein mit dem Gebetbuche in der Hand am Arm des Ritters Georg von Sturmfeder zur Kirche schreiten zu sehen.

Die Mondsichel war inzwischen am Himmel aufgetaucht und erinnerte an die Rückfahrt. Bald nahmen uns die Schatten des Waldes auf. Wieder trat in seinen Lichtungen, jetzt vom Mondlichte silbern beschienen, das Schlößchen hervor, und oft noch sahen wir uns nach demselben um und sandten ihm freundliche Grüße.




Blätter und Blüthen.


Die Kindererziehung in Beispielen. I. Das Lügen. Auf demselben Corridor mit mir, im dritten Stock eines weitläufigen Hauses, in welchem acht Familien aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammenwohnten, hatte ein Rechnungsrevisor sein bescheidenes Quartier aufgeschlagen. War ich nun schon erstaunt, eines Tages aus den sonst so stillen Räumen einer correcten Häuslichkeit die unzweideutigsten Anzeichen übermäßiger Aufregung zu vernehmen, so wurde ich’s noch mehr durch das Erscheinen des Revisors selbst in meinem Zimmer – wir kannten uns kaum – in welches er, ohne Umstände, Rath und Hülfe verlangend, stürmisch eindrang. Sein Söhnchen hatte – gestohlen, und zwar im Garten des Herrn Rechnungsraths; er hatte ein junges Bäumchen der ersten Früchte beraubt, war auf der That ertappt worden und leugnete jetzt hartnäckig sein Vergehen.

Nachdem ich den verzweifelten Vater, der den Fehltritt seines Sohnes wegen der besonderen Umstände offenbar zu hart beurtheilte, einigermaßen beruhigt hatte, forderte ich ihn auf, mir den Knaben herüberzuschicken. Das versprach er, rief aber von der Thür mir noch einmal zu: „Schonen Sie ihn ja nicht.“ Diese Worte mißfielen mir und ich konnte nicht umhin, etwas scharf zu erwidern, ich würde seinen Sohn mit Liebe und Sanftmuth behandeln. Er kam wieder zurück, klopfte mir mit einem hochmüthigen Lächeln, das Leuten seines Amtes eigen zu sein pflegt, auf die Schulter und sagte: „Wenn Sie einmal Kinder haben, lieber Herr Doctor, so fürchte ich, daß Sie dieselben verwöhnen werden.“

Verwöhnen? dachte ich, als er hinausgegangen war – vielleicht. Aber ich werde sie so unendlich lieb haben, und sie mich, daß sie nie etwas thun, was mich betrüben kann. Sie werden mehr Freiheit haben, als andere Kinder; aber sie werden an Herz und Gemüth, an Größe der Gesinnung, ebenso gut und vielleicht besser sein, als die Kinder mancher andern Leute. Erzieht denn die Strenge allein? Ist dies denn der Weg zum Herzen der Kinder, wenn man sie, wie dieser Revisor, durch Prügel zum Geständniß eines Fehlers bringen will? Strafe während der Untersuchung! (Ich war damals zwanzig Jahre jünger, allein der Hauptsache nach denke ich heute noch ebenso.) Und was ist das Motiv zu seiner strengen Erziehungsweise in diesem Fall? Die Liebe zu seinem Kind, welches er auf den rechten Weg zurückzubringen, das er für das Gute und Rechte vor allen Dingen wieder zu gewinnen trachtet? Keineswegs, es ist der Aerger und Zorn, daß ihm der Junge bei seinem Vorgesetzten den Streich gespielt, es ist die Furcht vor dem Urtheil der Menschen – wie bei den meisten Erziehern, – was ihn zur Härte und Lieblosigkeit fortriß.

Als der Knabe, den ich seines muntern und offenen Wesens halber gern leiden mochte, bei mir eintrat, überraschten mich sein erhobener Kopf und eine gewisse wortkarge Bestimmtheit der Rede, die nur hin und wieder durch den Ueberrest eines heftigen Schluchzens unterbrochen wurde. Sollte dieses Kind, dachte ich, so starrköpfig oder ein so vollendeter Heuchler sein?

„Du hast Deine Eltern schwer betrübt,“ fuhr ich härter heraus, als ich vorhatte, „und dem Herrn Rath, welcher die ersten Früchte jenes Bäumchens morgen auf der landwirthschaftlichen Ausstellung vorlegen wollte, eine Freude verdorben. Und dazu leugnest Du noch hartnäckig, obgleich Du auf der That ergriffen wurdest?“

„Ich leugne es nicht, daß er mich ergriffen hatte; aber ich riß ihm aus und warf ihm seine Birnen vor die Füße.“

„So, und zu dieser Ungezogenheit glaubtest Du wohl ein Recht zu haben?“

„Nein, aber er hat mich einen Dieb und Galgenvogel genannt, der einmal im Zuchthaus sterben würde.“

„Aber Du hattest ja auch gestohlen.“

„Nein, die Birnen hatte mir ein Camerad gegeben, den ich nicht nennen werde. Ich dachte mir’s gleich, daß sie von dem Bäumchen wären, und so war es auch; denn als ich über die Mauer stieg, hingen noch zwei da von derselben Art, die ich in der Tasche hatte.“

„Warum sagtest Du aber Deinem Vater nichts davon, daß ein Anderer die Birnen genommen hätte?“

„Weil – (hier zögerte er mit der Antwort) – weil er mich nicht anhören wollte und immer schrie: ,Du lügst,‘ und mich mit Gewalt zwingen wollte, etwas zu gestehen, was ich nicht gethan hatte.“

Es kostete mich viele Mühe, den eigentlichen Thäter herauszubringen, und es gelang mir nur gegen die feste Zusage der Verschwiegenheit. Es war nämlich Niemand anders, als das Söhnchen des Rechnungsraths selber, der Freund und Spielgenosse des Angeschuldigten; jener hatte, nachdem er einen Theil der Früchte verzehrt, in der Angst seines Herzens, als er anfing, die Folgen seines Leichtsinns zu ahnen, die übrigen Birnen dem Sohne des Revisors geschenkt.

Meine Geschichte wäre hier zu Ende – denn der Leser könnte sich den Schluß, wie der Gekränkte gerechtfertigt und der naschhafte Hausdieb, der im Uebrigen ein sehr braver Junge war, gestraft wurde, selber machen – wenn nicht ein interessanter Zwischenfall dazugetreten wäre. Ich hatte kaum den Eltern August’s – so hieß mein Schützling – die Sache umständlich mitgetheilt und auch den Namen des Thäters ihnen genannt, welcher aber verschwiegen bleiben sollte, was der Vater ganz in der Ordnung fand, die Mutter hingegen durchaus mißbilligte, als sich die Frau Rechnungsräthin selber melden ließ. Ich hatte mich mit dem Revisor, der etwas ängstlich schien, ob seine Frau die hohe Ehre eines solchen Besuchs auch hinreichend zu würdigen wüßte, in das benachbarte Zimmer zurückgezogen, von wo ich eine für mich sehr merkwürdige Scene deutlich wahrnehmen konnte. Die Frau des hohen Vorgesetzten drückte in weitschweifigen, übertreibenden Redensarten ihr Bedauern über das Unrecht aus, welches dem guten August widerfahren sei; ihr Söhnchen habe ihr unter vielen Thränen Alles gestanden. Da nun aber Geschehenes nicht zu ändern sei, so dächte sie, man ließe jetzt die Sache, wie sie wäre; denn sie möchte um Alles in der Welt nicht, daß ihr Gemahl erführe, wer die Birnen abgepflückt. Er würde gewiß ganz außer sich gerathen, sie wolle ihm daher das Vergehen Fritzchens lieber ganz verschweigen, um ihm eine Unannehmlichkeit zu ersparen. „Ach, Sie wissen ja, Madame,“ fügte sie zum Schlusse hinzu, „wie viel wir armen Frauen allein tragen und geheimhalten müssen, damit nur unsere guten Männer, denen der Beruf Aerger und Verdruß genug bringt den Tag über, geschont werden.“ (Diese Dame hatte wirklich den ausgesprochenen bedenklichen Grundsatz, den man oft erwähnen hört und hinter dem sich unter dem Schein der Selbstverleugnung und Schonung des andern Theils viel Unheil verbergen kann.)

Die Frau des Revisors war eine von jenen glücklichen Naturen, welche den guten Tact, überall das Rechte zu thun und zu sagen, mit auf die Welt bringen. Sie schwieg eine Weile, dann erwiderte sie gelassen und bestimmt, ihr Sohn habe zwar anfangs seinen Freund nicht verrathen wollen, da dieser aber selbst sein Vergehen gestanden, so habe sie die Ueberzeugung, die Frau Rechnungsräthin werde ihr eigenes Kind nicht in einer Lüge bestärken. Außerdem könne es ihr nicht gleichgültig sein, daß ihr August vor dem Herrn Rechnungsrath in einem so übeln Verdacht bliebe. Dabei beharrte sie auch ungeachtet eines wiederholten Versuchs der anderen Dame, die immer schärfer und hitziger wurde und sich zuletzt mit einigen impertinenten Knixen rasch empfahl.

Glücklicherweise war dem Revisor der ganze Vorfall entgangen, sonst hätte er gewiß intervenirt. Er hatte sich über eine neueingelaufene Rechnung hergemacht und mit scharfer Feder und blutrother Tinte die Fehler angestrichen, brummend und in sich hineinredend mit dem gleichen Behagen, mit welchem eine Katze spinnend ihre Beute verzehrt.

Nach einigen Stunden kam eine höfliche Botschaft vom Rechnungsrath, August möge den andern Tag hinüberkommen, wenn der Teich gefischt werde; Fritz habe seine Strafe erhalten und wünsche seinem Freund das Unrecht abzubitten, das ihm durch seine Schuld widerfahren sei.

Die Moral meiner Erzählung liegt auf der Hand. Ich will nur noch einige Rathschläge beifügen.

Wenn Du ein Kind im Verdacht hast, daß es gelogen hat und hartnäckig auf der Unwahrheit besteht – das Letztere ist selbstverständlich der gefährlichere Fehler – so vergewissere Dich vor allen Dingen gründlich, ob Du Dich nicht irrst. Auf keinen Fall nimm ohne Weiteres die Lüge als gewiß an. Oft lügt ein Kind aus Leichtsinn, in der Uebereilung oder aus Furcht vor harten Strafen. Nimm es nicht leicht mit der Lüge; sie verdirbt den Charakter durch und durch. Manche Eltern scheuen aus Bequemlichkeit eine weitläufige Untersuchung und erleichtern dadurch das Lügen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_047.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
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