verschiedene: Die Gartenlaube (1867) | |
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Frau, die sich mit ihrem lieben Wolfgang immer so gut vertrug! „Von Person,“ so charakterisirt sie sich in einem Briefe selbst, „bin ich ziemlich groß und ziemlich corpulent, habe braune Augen und Haare und getraute mir die Mutter von Prinz Hamlet nicht übel vorzustellen. Viele Personen, wozu auch die Fürstin von Dessau gehört, behaupten, es wäre gar nicht zu verkennen, daß Goethe mein Sohn wäre. Ich kann das nun eben nicht finden, doch muß etwas daran sein, weil es schon so oft ist behauptet worden. Ordnung und Ruhe sind Hauptzüge meines Charakters; daher thue ich Alles gleich frisch von der Hand weg, das Unangenehmste immer zuerst und verschlucke den Teufel (nach dem weisen Rath des Gevatters Wieland), ohne ihn erst lange zu begucken; liegt dann Alles wieder in den alten Falten, ist alles Unebene wieder gleich, dann biete ich dem Trotz, der mich in gutem Humor übertreffen wollte.“ Wie sie mit der Welt umgeht und mit ihr auf’s Beste auskommt, das sagt sie in einem anderen Briefe, der auch wieder so geschrieben ist, wie sie gesprochen haben würde, frisch von der Zunge weg. „Ich habe die Gnade von Gott, daß noch keine Menschenseele mißvergnügt von mir weggegangen, weß Standes, Alters und Geschlechts sie auch gewesen ist. Ich habe die Menschen sehr lieb und das fühlt Alt und Jung, gehe ohne Prätensionen durch die Welt und dies behagt allen Erdensöhnen und Töchtern, bemoralisire Niemand, suche immer die gute Seite auszuspähen, überlasse die schlimme dem, der die Menschen schuf und der es am besten versteht, die Ecken abzuschleifen, und bei dieser Methode befinde ich mich wohl, glücklich und vergnügt.“
Können wir nicht mit dem Dichter sagen: das war eine Frau, die es verstand, „resolut zu leben“, und „Meine Mutter stets heiter und froh, Andern das Gleiche gönnend“?
Nun tritt uns die vierte Insasse in Goethe’s Vaterhaus entgegen, die einzige geliebte Schwester Cornelia, mit der er Leiden und Freuden im Hause bis zu deren Verheirathung mit dem Jugendfreunde Johann Georg Schlosser am 1. November 1773 theilte, die aber schon leider am 8. Juni 1777 zu Emmendingen in Baden frühe starb. Sie war es, die ihm für sein Puppenspiel eine Garderobe verfertigte, die Puppen aus- und ankleidete, der er seine kleinen Herzensangelegenheiten, wie auch sie ihm, seine Liebes- und andere Händel mittheilte, die ihn mit der Mutter tröstete, als er von dem Vater über „Gretchens Geschichte“ Stubenarrest erhielt, die ihm entschieden rieth, die Verlobung mit Lilli aufzulösen, die ihn zwang, seine Schöpferkraft auf Götz von Berlichingen zu beschränken und in vier Wochen das Erstlingswerk zu vollenden. Mit Einem Worte, die Vertraute seines Herzens und Geistes, die er selbst am rührendsten in seiner „Wahrheit und Dichtung“ verherrlicht hat. Aber außer dem literarischen Portrait besitzen wir von dem dankbaren Bruder auch eine Bleistiftzeichnung (aus dem Nachlaß von Friederike Oeser in Leipzig), welche er auf den breiten Rand eines Correcturbogens des Götz im Jahre 1773, also kurz vor der Verheirathung seiner Schwester, hingeworfen hatte. Die Aehnlichkeit der beiden Geschwister war so groß, daß man sie in früheren Jahren für Zwillinge hielt; allein die stark ausgesprochenen Formen gaben später dem Gesichte der Schwester etwas Schroffes und Herbes, wie auch dem Ausdruck des Gesichts Freiheit und Sicherheit fehlte. Dazu kam noch jener unvortheilhafte Kopfputz, welcher dem Bruder mit Recht so sehr mißfiel.
„Sie war,“ so beschreibt er seine Schwester, „groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas natürlich Würdiges im Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am meisten erwartete und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe ausdrückten, einen Glanz hatten ohne Gleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich führt; dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur geben zu wollen nicht des Empfangens zu bedürfen. Was ihr Gesicht aber ganz eigentlich entstellte, sodaß sie manchmal wirklich häßlich aussehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche nicht allein die Stirn entblößte, sondern auch Alles that, um sie scheinbar oder wirklich, zufällig oder vorsätzlich zu vergrößern. Da sie nun die weiblichste, rein gewölbteste Stirn hatte und dabei ein paar starke schwarze Augenbrauen und vorliegende Augen, so entstand aus diesen Verhältnissen ein Contrast, der einen jeden Fremden für den ersten Augenblick wo nicht abstieß, doch wenigstens nicht anzog. Sie empfand es früh, und dies Gefühl ward immer peinlicher, je mehr sie in die Jahre trat, wo beide Geschlechter eine unschuldige Freude empfinden, sich wechselseitig angenehm zu werden.“ Dafür schloß sie sich aber desto inniger als Seelenvertraute an ihren Bruder an. „Ihre Neigung,“ fährt Goethe fort, „wendete sich desto kräftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Vertraute, denen man ein Liebesgeständniß offenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern, denn indem mein Verhältniß zu Gretchen zerriß, tröstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein, und so mußte auch ich mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der Einzige sei, der sie wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre.“
Wir hatten uns jedoch schon zu lange in diesen Räumen verweilt; ich trieb daher die Freunde an, die breite Treppe, die von da an nicht mit Eisengitter, sondern mit einem hölzernen Geländer von geringelten und bauchig gedrehten Säulen versehen ist, zum dritten Stocke, dem ersten Dachstock oder, wie ihn Goethe nach damaliger Redeweise nannte, „Mansard“, hinaufzusteigen, wo sich das echte Heiligthum, das Giebelzimmer Wolfgang’s, befindet. –
Nicht die Dachstube im Hinterflügel ist das weltberühmte Gemach, wo der Dichter seine Jugendträume träumte, seine ersten Kunstversuche übte, als Jüngling den Götz und Werther, wie andere seiner Sturm- und Drangdichtungen gedichtet und den Besuch der geistigen Mithelden seiner Zeit empfangen hat. Bettina, die sich als Kind und bei Lebzeiten der Frau Rath nie um Goethe’s Vaterhaus bekümmert, hat um so mehr zu diesem Irrthum beigetragen, als sie gerade dieses Dachstübchen im Hinterflügel, mit seiner nüchternen Aussicht auf die Krönung der Brandmauer des südlichen Nachbarhauses mit seinem Schornstein und einem durch dieses Bild berühmt gewordenen „Gückelhahn“, der jetzt auf einer gegenüberstehenden Garküche sich herumdreht, als Vorblatt zu ihrem erdichteten „Briefwechsel Goethes mit einem Kinde“ in die Welt gesandt hat. Das echte Heiligthum ist vielmehr das Giebelzimmer im Dachstocke nach der Straße zu, welchem die drei Fenster als dem geräumigsten angehören und das noch je ein Nebenzimmer hat, welche mit demselben durch Thüren verbunden sind. In diesem großen Giebelzimmer, das gegen die Morgensonne liegt, reifte der Knabe zum Jüngling und der Jüngling zum Mann heran. Es war dem Knaben alsbald nach dem Umbaue eingeräumt worden, und so beschaffen, daß der bereits weltberühmte Sohn eines hoch angesehenen Hauses nicht allein als ausübender Sachwalter in demselben hausen, sondern auch die Besuche der gefeiertsten Männer auf demselben empfangen konnte. In seiner Knabenzeit war es in höchster Einfachheit eingerichtet, wurde aber später gewiß schöner ausgeschmückt.
Die kleine Schwäbin. In einer entlegenen Winkelgasse der großherzoglichen Hauptstadt Carlsruhe stand im Jahre 1811 ein Häuschen; das an Armuth, Alter und Gebrechlichkeit sich vor allen andern der ganzen Nachbarschaft auszeichnete. Schon ein halbes Jahrhundert peitschte der Sturm den Regen durch das zertrümmerte Doch, indeß die morsche graue Mauer, auf Balken gestützt, sich immer tiefer und tiefer zur Erde senkte, dem greisen Bettler gleich, der sich auf Krücken bis zum Rande seines Grabes schleppen muß. Und wie die Schlangen Zeit und Zerstörung die kalten Steine des Hauses benagten, so nagten die Nattern Elend und Noth an den warmen Herzen seiner Bewohner.
In dem einzigen bewohnbaren Zimmer des alten baufälligen Hauses saß eine arme kranke Mutter im Kreise ihrer weinenden Kinder. Der Tod hatte ihnen den Gatten und Vater, den Ernährer geraubt und das letzte Stückchen Brod, das er verdiente, hatte die Wittwe mit der zärtlichsten Mutterliebe nach und nach unter die armen Waisen vertheilt. Heute, das heißt an dem Tage, von welchem wir sprechen, hob die alte Frau das thränenfeuchte Auge zum Himmel empor und seufzte leise: „Herr, erbarme dich unser!“ denn außer Gott, der die Raben füttert, hatte sie keinen Freund mehr auf der großen weiten Erde. „Erbarme dich unser, barmherziger Vater im Himmel, und sende uns den Schutzgeist aller Wittwen und Waisen!“
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_046.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2017)