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Seite:Die Gartenlaube (1867) 200.jpg

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Steppe anzulegen und Ackerbau zu treiben. Die Kosaken gehen ihnen hierin so wie in allerlei Handwerken mit gutem Beispiele voran. Räubereien dürfen nicht mehr vorkommen, sie werden auf’s Strengste geahndet. Ueber Streitsachen entscheidet der kaiserliche Richter.

Mag auch nach europäischen Begriffen in den dortigen Verhältnissen noch gar Vieles zu wünschen sein, so tritt doch hier unter den Kirgisenhorden und unter dem Räubergesindel der Grenzbezirke Turkestans der Kosak wirklich auf als Genius der Civilisation. Der Schritt aus dem beweglichen Filzzelt in das feste Wohnhaus, zu welchem er den Nomaden veranlaßte, ist der erste zur weitern Cultur, andere werden jenem nachfolgen, wie die Civilisation unverkennbar das ganze weite Czarenreich in ihre Bahnen gerissen hat. Immerhin aber muß der ein ganzer Mann, härter und fester noch als die alten Squatters am Mississippi und die Regulatoren von Arkansas sein, welcher jetzt schon als deutscher Ansiedler im Innern Rußlands leben und gedeihen will.




Das Wiener Chormadel.


An einem Sonntage des Jahres 1856 – wir erzählen nur Wahres, nichts Gemachtes – wenige Minuten vor zehn Uhr Vormittags, herrschte auf dem Chore der Karlskirche in Wien große Unruhe und Verwirrung. Das Hochamt und die dabei auszuführende Musikmesse sollte beginnen; die berühmte Hoftheater-Sängerin T. hatte versprochen, während des Offertoriums ein religiöses Solo zu singen; fromme und neugierige Gläubige füllten die Kirche, als plötzlich von der sehnsüchtig Erwarteten die Schreckenskunde kam, sie wäre krank und könne nicht erscheinen. War ihre Gesundheit wirklich angegriffen? Hatte ihr der Applaus im Theater am vorigen Abende nicht donnernd genug geschienen? Glänzten gestern die Edelsteine im Schmucke einer Rivalin noch blendender als in dem ihren? Wer vermochte hierüber Kunde zu geben?! – genug, sie kam nicht, und die versammelten Gläubigen sollten sie nicht hören. – Aber die Messe mußte beginnen; es fehlte nur noch eine Minute bis zehn Uhr, der Priester sah hinauf zum Capellmeister, dieser blickte nach dem Regens chori, der glotzte auf den Organisten und dieser warf bekümmerte Blicke auf die Choristen und Musiker, die unter einander flüsterten. Da plötzlich schien der Regens chori von einer Eingebung erleuchtet – er eilte auf den Capellmeister zu, sprach einen Augenblick eifrig mit ihm; dieser schüttelte den Kopf, wie Einer, dem das, was er eben hörte, sehr curios vorkam – doch er hob den Tactstock und „Kyrie Eleison“ schallte durch die Räume des Gotteshauses. Es war eine herrliche Messe von Mozart, aber nur wenige wahrhafte Kenner und Verehrer der Kirchenmusik lauschten andächtig den erhebenden Klängen, der größere Theil der eleganten Gläubigen, die an jenem Tage versammelt waren, harrte des Offertoriums, wo die Stimme der berühmten Künstlerin vom Theater auch einmal im Dienste des Höchsten ertönen sollte. Nun kam endlich der ersehnte Augenblick – alle Augen schauten nach der Stelle oben, wo die Solosänger immer erschienen, Augengläser und Lorgnetten wurden in Bewegung gesetzt; hie und da in versteckteren Winkeln sogar ein Operngucker – doch was war das? Anstatt der imposanten Gestalt der Berühmten tauchte ein kleines Köpfchen auf, das kaum über die Brüstung des Chores reichte, und ein Gesang ward vernommen, der weit verschieden von dem, auf welchen so sehnlich gewartet worden, dennoch nach wenigen Augenblicken die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte – voll und holperig zugleich, ungeschult aber begeistert, ohne jenen richtigen Uebergang in den verschiedenen Abstufungen des Vortrags, den nur die musikalische Bildung verleiht, doch so frisch und natürlich, so warm, so eigenthümlich selbst in der Unbeholfenheit, daß die Hörer sich unwillkürlich angeregt fühlten.

Die Messe war kaum beendet, da stürzte ein Musikenthusiast auf das Chor. „Wer hat denn das Offertorium gesungen?“ fragte er.

Ein Musiker wies auf die Sängerin.

„Was? dös klane Madel hot die große Stimm?! Was is sie denn?“

Der noch in Wien lebende Chordirigent Rupprecht trat hinzu; er kannte den Frager. „Das ist die kleine Lucca,“ erklärte er; „nicht wahr, sie singt schön? Das Mädel hat ein kolossales Talent, aber sie lernt nix; wenn sie etwas ordentlich kann, habe ich ihr’s mit dem Fiedelbogen auf den Buckel zuerst eingebläut (historisch); das hat bisher noch am besten geholfen.“

„Aber warum halten die Eltern das Kind nicht strenge zum Lernen an? Warum geben sie ihm nicht eine sorgfältige Erziehung, warum geht sie nicht auf’s Theater? Die müßte ja ihr Glück machen!“

„Ja,“ meinte der würdige Chordirigent, „sie ist schon am Kärnthnerthor engagirt … als Choristin. Die Eltern können nichts für sie thun. Erstens sind sie blutarm; der Vater war eine Art Seidenwaarenhändler, ist im Jahre 1848 ganz verarmt und hat kaum meinen Unterricht bezahlen können. Die Kleine hat mit den Kindern des Sängers Erl, der hier in der Nähe wohnt, öfters gespielt, dieser ließ sie einmal im Scherze etwas nachsingen, das er ihr zuerst gegeigt, und war überrascht, eine so klare und kräftige Stimme zu entdecken. Er leitete die Aufmerksamkeit der Eltern auf die reiche Fundgrube im Talente dieses Mädchens – aber was konnten sie thun? Die Mutter bat mich, das Kind zu unterrichten; ich that, was ich vermochte – damals war sie zehn Jahre alt – jetzt in ihrem fünfzehnten muß sie schon denken, die Familie zu unterstützen … es blieb ihr nichts, als jenes Engagement anzunehmen. Uebrigens, wenn die Eltern auch vermöglich gewesen wären, ‚dös Madel‘ hätten sie doch nicht zum ordentlichen Lernen gebracht, der kleine Satan hat seinen eigenen Kopf; was der nicht paßt, dazu bringt sie kein T–, nicht einmal mehr der Fiedelbogen.“

So sprach der würdige Regens chori der Karlskirche, so auch dachte der Chordirigent der Oper am Kärnthnerthor, dem das wilde Mädchen manchen Aerger bereitete. Als er ihr einmal im Zorne den Rath an den Kopf warf, sie solle lieber Tänzerin werden, da sie doch immer wie ein junger Geisbock herumspringe, antwortete sie gleich: „I warum nicht?“ machte Entrechats und ahmte die Bewegungen der berühmten Tänzerinnen nach, daß der ganze Chor in helles Lachen ausbrach, in welches der Erzürnte zuletzt selbst mit einstimmte.[1]

Indeß entfaltete sich ihre Stimme immer mächtiger; man ward aufmerksam auf sie und selbst die berühmte Sängerin Medori von der italienischen Oper begann sich für sie zu interessiren. Auch der kleine Trotzkopf selbst sah ein, daß, um seinen Willen durchzusetzen, eine andere Carrière nothwendig sei, als die einer Choristin, und so wurde sie endlich am Olmützer Theater mit sechszig Gulden monatlich als Sängerin für „italienische Partien“ angestellt; vorläufig auf ein halbes Jahr.

Ein seltsamer Zufall wollte, daß unsere Heldin, noch bevor sie die Wiener Bühne verließ, einen kleinen Triumph feierte. Am Abende, wo ihr Engagement als Choristin endete, wurde Weber’s Freischütz gegeben. Die Führerin des Brautchors, die das „Wir winden dir den Jungfernkranz“ zu singen hatte, erkrankte plötzlich und – Pauline wurde ausersehen, an deren Stelle zu treten. Die guten Wiener waren schon seit langen Jahren gewohnt, „Kranzljungfern“ zu schauen, für welche das alte Soldatenlied „Schier dreißig Jahre bist du alt“ besser paßte, als Weber’s heiterer Jugendgesang; als mit einem Male das blühende Gesichtchen mit den feurigen Augen und dem Rabenhaar, die zierliche elastische Gestalt vortrat und nun gar die prächtige Stimme so lustig und hell ertönte, da klatschten sie Beifall aus Leibeskräften, und die Direction des Hofoperntheaters wollte den neu entdeckten „Stern“ gleich fixiren; aber es war zu spät. Am andern Tage reiste Pauline ab; am 7. September 1859 trat sie zum ersten Male als Elvire in Ernani auf und errang gleich einen derartigen Erfolg, daß ihr binnen kurzer Zeit neue glänzende Anträge von größeren Bühnen Oesterreichs und Deutschlands zukamen. Sie konnte also wählen und ging auch schon vier Monate nach ihrer Ankunft in Olmütz – als Gefangene auf die Citadelle.

Die einzelnen Anlässe, welche diesen Zwischenfall herbeigeführt haben, sind jetzt wohl nicht mehr genau darzulegen; leichter ist’s,


  1. Damals war allgemein der Glaube verbreitet, die kleine Lucca werde zum Ballet übergehen, und das mag auch erklären, daß viele Leute meinen, sie wäre in der That zuerst Tänzerin gewesen.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_200.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2017)
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