Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1867) 808.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

an einem Baumstamme gefunden hatten, die sie auserkoren, ihre Eier hineinzulegen. Bedenklich schritten sie auf derselben auf und ab, mit den gesenkten Fühlern die Oberfläche der Raupe wählig betastend und prüfend, sei es, an welcher Stelle sie am besten ihre Eier ablegen könnten, sei es, was ich als wahrscheinlicher anzunehmen Gründe habe, ob schon eine andere Schlupfwespe ihre Eier abgesetzt habe. Außerdem sind bei den Fühlern am Grunde des dritten Gliedes sehr feine Oeffnungen zu beobachten und auch der anatomische Bau der Fühler ist nicht so ganz einfach, so daß durch dieselben eine Vermittelung äußerer Einwirkungen stattfinden kann. Aber die Fühler geben als der Sitz der feinsten Empfindungsmasse, wie der Schwanz und das Ohr bei vielen Vierfüßlern, die Empfindung, Freude, Unmuth, Furcht etc. kund. Der mißmuthige Maikäfer hat die Schnurrblättchen zusammengelegt, doch je munterer er wird und je mehr er zum Fliegen sich anschickt, desto lebhafter fahren dieselben auseinander. Ich meine, bei den Fliegen ähnliche Gemüthsandeutungen mannigfach beobachtet zu haben.

Sind wir zu Ende? Bewahre, kaum angefangen haben wir! Wir haben von dem Flügelgeäder, den Beinen, dem Auge, dem Innern, von der Verwandtschaft mit den Würmern, denen die Fliege in den ersten Entwickelungsstufen zweifelsohne angehört, noch nichts gesagt. Es ist jedoch genug, wenn der werthe Leser erkannt hat, daß das elende Insect nicht uninteressant ist und mehr Geheimniß darin steckt, als unsere Weisheit sich träumen läßt. Aber was sich wissen läßt von den alltäglichsten Naturdingen um uns her, das sollte, je nach seinem Vermögen, Jeder wissen.

Durch das Wissen wird auch die rechte Würdigung kommen, und man wird von der ganzen Natur zuletzt mit klarem Bewußtsein sprechen können: „ich liebe sie!“ Mit dem „letzten Gaste“ schwindet uns dann eine wundersame Welt von drolligen, traulichen Lebewesen wieder einmal dahin.




Deutschlands erster Improvisator und sein Loos.
Von Friedrich Hofmann.


Der fünfte März des Jahres 1825 war ein Tag geheimer und darum doppelt schwerer Sorge für eine Mutter in Hamburg. Niemand im Hause durfte ahnen, was sie drückte, Niemand bemerken, wie sie den Reisekoffer des geliebten Sohnes packte, letzterer am wenigsten. Je näher der Abend kam, desto banger wurde ihr um’s Herz, desto gepreßter der Seufzer: „Fort muß er, wenn’s mißlingt! Keinen Tag darf er länger in Hamburg bleiben!“ – Und als die siebente Stunde schlug, sandte sie einen treuen Diener mit einem vertrauten Auftrage ab und schritt nun in unbeschreiblicher Unruhe von Zimmer zu Zimmer, bald zum Koffer und bald wieder zum Fenster, des Dieners Rückkehr erharrend.

Was hat diese Mutter so tief bewegt? Welche Gefahr stand ihrem Sohne bevor?

Eine Gefahr, an welche dieser selbst keinen Augenblick gedacht, als er das in Deutschland Gewagteste unternommen hatte: sich dem öffentlichen Urtheil preiszugeben durch das erste Auftreten in einer für die Deutschen ganz neuen Kunst, für welche ihnen nicht nur die durch sie bisher bevorzugten Nationen, sondern die Deutschen sich selbst von je alle Befähigung abgesprochen hatten. Ein junger, in weiteren Kreisen noch völlig unbekannter Dichter trat heute zum ersten Male öffentlich als Improvisator in deutscher Sprache auf, und dieser Dichter war jener Mutter Sohn.

Es wird nicht überflüssig sein, ehe wir die Leistungen des ersten deutschen Improvisators darstellen, über das Wesen der improvisatorischen Kunst selbst das Nothwendigste vorauszuschicken. Jeder Improvisator muß Dichter sein; während aber der Dichter sein Gebilde, einerlei, ob er den Stoff dazu aus sich geschöpft oder ob er ihm von außen geboten ist, in möglichster Ruhe ausbaut, die rechte Stimmung abwartet, sich volle Zeit nimmt, mit Schwierigkeiten des Rhythmus und des Reims zu kämpfen, streicht, ändert und feilt nach Gefallen und erst das vollkommen fertige Gedicht an die Oeffentlichkeit bringt, kann der Improvisator, welcher sein Talent öffentlich verwerthet, sich die Stunde nicht wählen, wo er für seine Augenblicksschöpfungen „disponirt“ ist; die Zeit ist vorher bestimmt, der Saal gefüllt, die Aufgabe wird gegeben und hundert Augen sind auf das Antlitz gerichtet, hinter dessen Stirn sofort der Geist Das poetisch gestaltet, was der Mund in fertiger Form ausspricht. Gerade dies Einheitliche des Schaffens und Preisgebens ist das Wesentliche der Improvisation. Es giebt wohl Dichter, welchen ein gutes Gedächtniß gestattet, bei irgend welchen gesellschaftlichen Gelegenheiten sich ein Gedicht im Kopfe fertig zu machen und dann vorzutragen: dies ist nicht improvisirt, es ist die gewöhnliche, nur raschere und die Niederschrift der Arbeit entbehrende poetische Production; der Improvisator läßt seine Dichtung vor unseren Augen und Ohren entstehen, er denkt gleich in Rhythmus und Reim, und das Publicum lebt sein Dichten mit.

Hohe Würdigung haben die Improvisatoren da längst gefunden, wo ihre eigentliche Heimath ist, in Italien und Spanien; dort sind die berühmtesten Improvisatoren sogar auf dem Capitol gekrönt und an Fürstenhöfe gezogen, hier von ihren Vaterstädten hochgeehrt worden. Nur den nordischen Völkern schien eine solche Geistesfähigkeit versagt zu sein. Denn die Leber- und andere gesellschaftlichen Reimspielereien wird man nicht hierher ziehen wollen; weit eher hätte der freie Schnaderhüpflgesang bei unseren Alpenvölkern darauf hindeuten können, daß die Kunst der freien Dichtung den Deutschen nicht ganz versagt sei. Indeß wagte, wenigstens öffentlich, Niemand gegen das herrschende Vorurtheil aufzutreten. Um so erfreulicher ist es, daß gleich der Erste, der dies unternahm, sich und uns den Ruhm erwarb, daß er als einer der größten Improvisatoren aller Zeiten und Völker anerkannt ist, und eben darum werden unsere Leser mir um so bereitwilliger zu einer näheren Betrachtung dieser denkwürdigen Erscheinung und des Mannes selbst und seines späteren Schicksals folgen, als die Tage seines höchsten Glanzes in eine für das Nationalehrgefühl der Deutschen so traurige Zeit fielen, daß eine Würdigung seines Verdienstes von diesem Standpunkt aus gar nicht möglich war, ja es vielmehr möglich wurde, daß die ganze gegenwärtige Generation von den großartigen Erfolgen einer so seltenen deutschen Geisteskraft nichts mehr weiß.

Was ich hier über ihn mittheile, ist nicht blos aus fremdem Material, sondern zum größten Theil aus eigener Erinnerung an den persönlichen Umgang mit ihm geschöpft, dessen ich mich Jahre lang zu erfreuen hatte.

Oskar Ludwig Bernhard Wolff ist der Name dieses Mannes. Wir suchen ihn gleich in Hamburg auf, wo wir ihn, den Sohn wohlhabender Eltern des Kaufmannsstandes (er ist am 26. Juli 1799 zu Altona geboren), nach in Berlin und Kiel vollendeten natur-, schönwissenschaftlichen und Sprachstudien als Lehrer bei zwei verschiedenen Erziehungsanstalten finden. Ein neckisches Spiel hatte ihn dort in gesellschaftlichem Kreise zum ersten Versuch geführt, als Capuziner den Anwesenden eine gereimte Bußpredigt zu halten; das Gelingen derselben regte in ihm die Ueberzeugung an, daß er die Gabe der freien Dichtung in weit höherem Grade besitze, als er selbst geglaubt hatte. Als er dies in vertrauterem Kreise einmal äußerte, sagte ihm eine Dame, die durch ihr musikalisches Talent in der Gesellschaft glänzte: „Versuchen Sie es doch, Sie können es gewiß.“ Diese Herausforderung nahm Wolff sofort unter der Bedingung an, daß sie ihn in freier Phantasie auf dem Flügel begleite und Niemand als eine Freundin von ihr dem Versuche beiwohne. So geschah es. Wolff erzählt (in der autobiographischen Vorrede zur Gesammtausgabe seiner Schriften[1]) diesen für die improvisatorische Kunst in Deutschland entscheidenden Augenblick so:

„Wir versammelten uns dazu an einem der nächsten Nachmittage; das aufgegebene Thema war das Lob deutscher Dichtkunst; sie präludirte, und durch ihr herrliches Spiel aufgeregt und fortgerissen, fiel ich ihr in die Töne und sprach ohne Anstoß fort, gedrängt von den Bildern und Anschauungen, die in mir aufstiegen, die poetische Form unbewußt gestaltend, wobei sie mich


  1. Jena, Fr. Mauke, 1841.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 808. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_808.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2017)
OSZAR »