verschiedene: Die Gartenlaube (1867) | |
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laß mich nicht ausdenken, er führt in die todte Finsterniß. Begleite mich, Schwester, mit Deinen guten Gedanken! – Meine Seele ist weich wie nie, ich muß enden, oder ich zerfließe.
So leb’ ich nun also in Rom, liebe Julie, zum zweiten Mal, und wie hier vor einem Jahr mein Geist genas, so soll diesmal, denk’ ich, mein Herz genesen. Ja, ich fühle schon wieder die beruhigende Wirkung dieser ewigen Stadt, dieses versteinerten Märchens. Eine leise, beständige, sanfte Melancholie begleitet mich, in ihren linden Armen hoff’ ich nach und nach zu gesunden. Ich lebe still, ich meide die Trümmerwelt, weil sie mich elend stimmt und in meiner Wunde wühlt und mir die Ruhe der Seele fehlt, sie zu genießen; ich suche lieber das Lebendige auf, die immer junge Natur, das unendliche Licht, die sanften Lüfte. Wenn ich bei Tage in den hohen kühlen Sälen gesessen und die alten Handschriften entziffert habe, führ’ ich am Abend diesen oder jenen meiner Freunde vor’s Thor hinaus, in die nächste Campagna, in eine Villa, einen Weingarten, an’s Tiberufer, überall hin, wo Natur ist, und lerne wenigstens, wenn ich nicht genießen kann, und über ewigem Lernen such’ ich zu vergessen.
Ach, Julie, wie groß, wie schön, wie reich hier Alles gemacht ist! Wir gingen gestern Nachmittag in die Villa Albani, in der vor hundert Jahren Winckelmann so glücklich war. Nie ist mir italienischer zu Muthe gewesen, als hier. Schon der Eintritt mit dem plötzlichen Blick über den langgestreckten, sich leise absenkenden Ziergarten hinaus auf das im Sonnenlicht glühende Sabinergebirge ist so ganz überraschend, und nun der Weg durch die Buchsbaum-Alleen, zwischen den alten bemoosten Hermen hin, bis man auf den freien, von Blumenarabesken durchschlängelten Platz hervortritt und hier das herrlichste, formenreichste Bild sich in tausend warmen Farben harmonisch zusammenordnet: die Riesencypressen, die den Park begrenzen, die künstliche Tempelruine, aus wunderbar tiefgrünen Eichen entgegenschimmernd, und hinter ihr aufragend die classische Silhouette der Vorstadt Santa Agnese, und die in allen blauen und rothen Farbentönen hinauswachsende Campagna, aus der die fernen Bergstädte wie leuchtende Inseln aufsteigen, und endlich der braune Monte Gennaro und das ganze Gebirg – und das Alles verklärt von unermeßlichem Licht! Wir standen wie trunken da und wie wenn dieses ganze, durch einen Schöpfertraum hervorgehauchte Bild nach kurzer Schaustellung wieder versinken müßte. „Hier fehlt nun nichts mehr,“ sagte mein Freund, „als Mozart’sche Musik und ein göttlicher Wein…“ Das fuhr mir auf einmal wie ein Stich durch’s Herz. Ich war wieder aufgestört, ich fühlte, was mir fehlte.
Ach, was hilft es, Julie, daß ich Dir und mir von diesen Wundern erzähle? Als wir nach einer Stunde wieder aus der schönen marmorreichen Halle hervortraten, die Augen mit Statuen und Schönheit und Griechenthum angefüllt, und nun die Lichtverschwendung der untergehenden Sonne in’s Märchenhafte wuchs, die hohen Cypressen sich buchstäblich rötheten, der Thurm von Santa Agnese zu einem feurigen Ofen ward und wir in dieses Feuerwerk von Lebens- und Sterbensgluth des Lichtes stumm hinausstarrten – was half es mir, daß mein Geist anbetend bewunderte? Mir summte ein altes melancholisches Lied im Ohr, und schwermüthiger als jemals wanderte ich heim. Und in der Nacht fand ich keine Ruhe. Im Wachen wie im Traum war ich in meiner Vaterstadt, sah die Sonne hinter unserm See niedergehen, die Kähne, die Segel hin und wieder fahren; hörte deutschen Gesang, und unsere hellen, lachenden Mädchenstimmen, und unsere tiefen, feierlichen Sonntagsglocken – und endlich besann ich mich in tiefen Schmerzen, daß ich in Rom war.
Wohin soll ich hier flüchten? In den Kirchen verleid’ ich mir die Menschheit, in der Natur bin ich allein. Wenn ich in einem dieser christlichen Tempel das Geplärre höre und das stumpfsinnige oder heuchlerische Volk sehe, wie es seinen bronzenen Heiligen die Füße küßt, seine hastigen Gebete murmelt und die Augen verdreht, oder in Büßerinbrunst sich auf den Boden wirft und das Gesicht an die marmornen Fliesen drückt, oder die heilige Treppe des Lateran hinaufrutscht, – soll ich das noch für Menschen halten? Ich hatte mich heute wieder in eine der Kirchen verirrt; im innersten Herzen angewidert kam ich heraus und floh allein in die Campagna, um diesem Volk zu entrinnen. Aber die Oede da draußen bedrängte mir die Brust. Die Ruinen, die Gräberstraßen, die todten Gefilde – leben will ich, Julie, leben mit Meinesgleichen! im gegenwärtigen, augenblicklichen Dasein mich lebendig fühlen, lebendig und glücklich sein! Ich ging an den Teverone und sah, wie das riesenhohe Rohr an seinen Ufern gefällt ward; der Fluß wandert so still, so einsam, so geheimnißvoll durch das Weideland dem Tiber zu, sich hier und da an die wildbewachsenen Felsen herandrängend; weit und immer weiter zieht das Auge mit ihm den sanften, umdufteten Linien der Ferne zu, und ich, Julie, sah das Alles und schlich in Gedanken an unserm heimathlichen Flüßchen entlang und sah durch seine Weiden Anna’s gelben Strohhut herüberschimmern – und ganz Italien hätt’ ich für diesen Strohhut gegeben!
So wanderte ich denn endlich, ungebessert wie immer, zur Stadt zurück. Und wie ich so in meinen unaussprechlichen Gedanken durch die Straßen am Monte Pincio meiner Wohnung zu schlendere, hör’ ich auf einmal einen wilden, markdurchschneidenden Lärm; an der nächsten Ecke wickelte sich aus einer Frauengruppe ein junges Mädchen heraus, in rasenden Bewegungen und gellendem Schreien, zerschlug sich die Brust, riß wüthend an ihren langen Haaren und stieß wie sinnlos die andern Mädchen zurück, die sie zu besänftigen suchten. Weiter oben aber in der ansteigenden Gasse bewegte sich ein unruhiger Menschenknäuel, man hörte, wenn die gellende Stimme einmal verstummte, unheimliche Rufe durch einander; Alles blieb stehen, um die Auflösung dieses Räthsels abzuwarten. Nach einer Weile kam aus jenem Knäuel ein Wagen hervor und fuhr langsam auf uns zu, die Straße herab. Ein Gensd’arm saß neben dem Kutscher, in dem offenen Gefährt ein leichenfarbener Jüngling, mit aufgelösten Gliedern und durch den Tod geadelten, männlich schönen Zügen, das Hemd unter der Brust zurückgeschlagen, man sah seine blutige Wunde. Ein Freund hielt ihn im Arm, ein ihm gegenübersitzender Capuziner seinen kalten Puls. Als er vorbeifuhr, schrie das Mädchen so verzweifelt auf, daß ich zusammenfuhr: „Bruder! Bruder!“ – Die Frauen rangen mit ihr, um sie festzuhalten. Dann verschwand der Wagen, und die Unglückliche versank in eine dumpfe Stille. „Erstochen!“ murmelten die Leute um mich her. Auf einmal stand eine ältere Matrone neben mir, sah mit nassen Augen, aber einem erstarrt stillen Gesicht uns an und sagte scheinbar ruhig: „Das ist mein Sohn.“ Weiter nichts. Ich schüttelte mich und ging von dannen. Mir schauderte die Seele. Im Vorbeigehen hörte ich die Leute sagen, der Andere hab’ ihn aus Eifersucht erstochen; es fiel ihnen nicht auf, sie waren daran gewöhnt. Er war der Bevorzugte, der Geliebte, da mußte er freilich sterben! O Julie, ein Haß überkam mich auf dieses Volk. Sie sind das Leben nicht werth. Mir fiel wieder Walter ein, der Gute, Edle – und damit mein ganzes elendes, unsinniges Schicksal – und ich schlich bei Seite, den ödesten Straßen zu, um meine unaufhaltsamen Thränen zu verbergen.
Julie, Schwesterherz, wie soll ich hier genesen? Alles reißt nur an meiner Wunde, ich weiß keinen Balsam, ich sehe keine Rettung.
Liebe Julie, ich habe eine Gelegenheit gefunden, mit einem Freund auf ein paar Monate nach Neapel und Sicilien zu gehen, und habe sie eilig ergriffen. Hier in Rom halt’ ich’s nicht aus. Bewegung, Veränderung! Das Reisen, das eifrige Arbeiten – denn ich setze dort meine Studien fort – wird mich wenigstens nicht in den Abgrund meines kläglichen Ich versinken lassen… Ich sage Dir, ich kenne mich nicht mehr. Wie ein Jüngling ging ich von hier nach Deutschland, wie ein Greis komm’ ich zurück. Oder nein – wie ein Mann, aber ein unglücklicher Mann! – Doch kein Klagwort mehr, ich muß es tragen.
Morgen ziehen wir davon. Heute noch einmal in die Campagna und in’s Pantheon, und dann hinweg,
Der Flüchtling ich, der Unbehaus’te!
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh’!
Der wie ein Wassersturz –
Doch lies es nach, Julie, es sind goldene, grausame, unerbittliche Worte!
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_819.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)