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Seite:Die Gartenlaube (1869) 099.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)

Diese Annahme blieb ihr auch vorläufig ungeschmälert. Der Hüttenmeister war allerdings für den ersten Augenblick tieferschrocken gewesen über Jutta’s unüberlegten Schritt, aber der Fehler war einmal geschehen und ließ sich ohne Eclat nicht mehr ändern. Der junge Mann konnte der Geliebten nicht einmal den Vorwurf der Unüberlegtheit machen, denn sie war ja nie eingeweiht worden in ihre Familienverhältnisse – um die unmittelbar vor Frau von Zweiflingen’s Tode stattgefundene heftige Scene wußte er nicht; Jutta, als alleinige Zeugin, hatte den Vorfall nie mit einem Wort berührt. Während der ersten Zeit ihres Aufenthaltes im weißen Schlosse konnte der Hüttenmeister nicht persönlich mit ihr verkehren. Berthold’s jugendkräftige Statur hatte in jener entscheidenden Krisis, die am Weihnachtsabend eingetreten, gesiegt; er blieb dem Leben erhalten, wenn er auch alle Stadien der furchtbaren Krankheit durchmachen mußte. Während dieser Zeit wußte Jutta brieflich dem Verlobten das Unverfängliche und zugleich die Nothwendigkeit ihres Schrittes sehr überzeugend darzustellen, und er hütete sich, durch unzeitige Aufklärung ihr die Unbefangenheit zu rauben, die sie zu dem nun einmal eingegangenen Verkehr mit Frau von Herbeck und der kleinen Gräfin nöthig hatte. Später, als die Gefahr der Ansteckung vorüber, ging er oft nach Arnsberg. Freilich erlebte er nicht, daß die Braut an sein Herz flüchtete, um dort ihren „starren, thränenlosen Schmerz“ endlich auszuweinen – sie war mit sich allein fertig geworden. Eine schweigende, scheinbar verzagende Nonnengestalt hatte er durch den Wald in das Pfarrhaus geleitet, und im Schlosse trat ihm ein wahrhaft königliches Weib entgegen, eine Erscheinung, die urplötzlich die letzte beengende Knospenhülle abgestreift und gleichsam über Nacht jene anmuthige Sicherheit angenommen hatte, die scheue und schüchterne Mädchenseelen meist erst nach jahrelangem Kampfe mit sich selbst erringen.

Jutta entwickelte sehr viel Esprit und jene meisterhafte Art, Conversation zu machen, die selbst die oberflächlichsten Plaudereien pikant und anziehend erscheinen läßt. Dabei schwebte häufig ein völlig neues, verführerisches Lächeln um ihre Lippen – es hätte dem Hüttenmeister auffallen müssen, daß er alle diese Eigenthümlichkeiten früher nicht gesehen, oder mehr noch, daß nicht er es gewesen, der sie zu erwecken vermocht hatte; allein sein eigenes goldtreues Gemüth, sein blindes Vertrauen auf Jutta’s Charakter und hingebende Liebe ließen nie auch nur eine Spur von Verdacht in ihm aufkommen. Er gab sich arglos dem neuen Zauber hin, und wenn auch das junge Mädchen jetzt weit zurückhaltender war als sonst, wenn sie ihn nicht mehr mit der lebhaften, stürmischen Freude empfing, wie ehemals im Waldhause – so entsprang dies einzig und allein der Scheu vor der neuen Umgebung, eine Auffassung, die offenbar auch Frau von Herbeck theilte, denn sie bemühte sich, durch verdoppelte Liebenswürdigkeit Jutta’s verändertes Wesen zu verdecken – diese „durch und durch respectable, prächtige“ Frau von Herbeck! – – –

So war der Winter verflossen, ein so strenger und weißer Winter, wie er den Thüringer Wald seit langen Jahren nicht heimgesucht. Das erste, lustige Flockengewimmel, welches die Pfarrerin von Neuenfeld so freudig begrüßt hatte, war der Vorläufer eines ungeheuren Schneefalles gewesen. Vorzüglich droben in den höchsten Gebirgsregionen hatte es monatelang so unermüdlich und consequent geschneit, daß die Häuser Tag für Tag tiefer einsanken in ihr weißes Grab, bis schließlich nur noch hier und da die schornsteingekrönte Holzfirst wie eine graue Linie auf dem flimmernden Weiß lag; niedrigere Hütten aber ließen nicht einmal diese Spur ihres Daseins auf der Oberfläche zurück. Die Bewohner stiegen durch den Rauchfang aus und ein, und es kam vor, daß Wanderer, die in der unkenntlich gewordenen Gegend den Weg verloren hatten, zu ihrem Entsetzen urplötzlich versanken und mit Blitzesschnelle in einen engen Schacht einfuhren, um sich drunten auf der Heerdplatte, inmitten sehr erschrockener Gesichter, wiederzufinden.

Warm war’s da unten in der tiefen Finsterniß, die der knisternde Kienspahn oder das qualmende Oellämpchen matt durchleuchteten – an Feuerung fehlte es nicht; aber der Topf, der im Ofen brodelte, enthielt kaum die Hälfte der gewohnten täglichen Mahlzeiten, ja, öfter noch stand er feiernd auf dem Küchenbret, und die eingesargten Leute gingen hungrig zu Bette. Der im vergangenen Herbst so kärglich eingeheimste Kartoffelvorrath ging rasch zu Ende, und wehe dem armen Waldbewohner, wenn ihm diese Quelle versiecht! Die Kartoffel vertritt bei ihm Fleisch und Brod; er ißt sie gebraten oder in der Pfanne gebacken zu feinem dünnen, elenden Kaffee, mit welchem die erquickende Moccabohne gewöhnlich nur noch den Namen gemein hat. Damit sättigt er sich oft monatelang, und eine einzige Mißernte läßt sofort das Gespenst der Hungersnoth auftauchen.

Nun klangen die Osterglocken durch die weißen Thäler, und als ob er nur auf diese ersten Frühlingsstimmen gewartet, flog ein warmer Thauwind auf und streifte hin über die hochgethürmten Schneezinnen der Berggipfel, über die Tausende zackengeschmückter Eispyramiden, die der Fichtenwald hoch hinauf nach den Wolken reckte. Das ist bei hohem Schneefall stets ein verhängnißvoller Moment für einzelne Thäler des Thüringer Waldes. … Es tropft leise, leise von den glitzernden Eisnadeln herab auf die Schneedecke, die außen wie ein blanker Schild, noch trotzig und scheinbar siegreich die Strahlen der heiteren Märzsonne zurückwirft, während unter ihr bereits kleine Wasseradern pulsiren. Das geräuschlose Durchsickern wandelt sich allmählich zu Rinnen und Rieseln, zu tausendfältigen schmalen Bächlein, die gnomenhaft wühlend thaleinwärts streben. Die häuserhohe Schneeschicht sinkt ein, ihre marmorglatte, zu körnigem Eis erhärtete Oberfläche zerberstet, und aus den Spalten steigen gurgelnd und brodelnd die unterirdischen, schmutzig gelben Wasser. … Nun dringt auch das Tageslicht wieder durch die Hüttenfenster, aber mit bangklopfendem Herzen sehen die Bewohner den schäumenden Wasserschwall von den Bergen stürzen. Wohl mündet er anfänglich in den kleinen Fluß, der über die Thalsohle hinrauscht und friedlich die Mühlen treibt – eine kurze Zeit wälzen sich die trüben, losgerissene Felsstücke und entwurzelte Bäume mitschleppenden Wogen in dem schmalen Bett, allein sie schwellen und steigen beharrlich.

Immer breiter und vielseitiger quellen die mißfarbenen Bänder droben aus dem Walddickicht; die Frühlingssonne sieht das Verderben mit ihnen herabstürzen und saugt lächelnd ihren glühenden Kuß immer fester an das Thalgelände – sie will Blumen wecken und schreitet dabei unerbittlich über Menschenwerk und Menschenwohlfahrt. Der Boden schluckt den zerronnenen Schnee nicht mehr, es quillt und wogt nun auch auf Ackerland und Wiesengründen, der Fluß schwillt über – und nun möge sich Gott erbarmen! – „Wassersnoth auf dem Walde!“ rufen bestürzt die Bewohner der Niederungen, wenn die von droben herabtosenden, hochangeschwollenen Flüsse Häusertrümmer und Geräthschaften auf ihrem Rücken mitbringen.

Die Neuenfelder Gegend war diesen Gefahren weniger ausgesetzt, sie erstreckte sich nicht bis in jene unheimlichen Regionen. Der kleine Fluß jedoch, der so anmuthig das Thal durchschnitt und im Sommer oft allzu sanftmüthig und unschuldig über das Wehr hinabfloß, war zur Frühlingszeit ein heimtückisches, mit den Hochfluthen der oberen Berge correspondirendes Gewässer. Er trat dann auch leicht über die steilen Ufer und nahm mit, was sich an Mühlen, Brücken und Stegen irgend losreißen ließ.

Am dritten Osterfeiertag Nachmittags wanderte der Hüttenmeister in Begleitung des Studenten nach Schloß Arnsberg. Berthold war völlig wiederhergestellt und sollte in den nächsten Tagen nach der Universität zurückkehren. Er hatte es bis dahin consequent verweigert, sich der Braut seines Bruders vorstellen zu lassen. Niemand wußte, daß dies junge, feurige Gemüth alle Qualen tödtlicher Eifersucht durchlitt, daß es eine Art von Haß in sich trug gegen das Wesen, das den ernsten, abgöttisch geliebten Bruder berückt hatte und seine ganze Seele erfüllte. Dabei war ihm Jutta’s adelige Abkunft stets ein Gegenstand des Mißtrauens gewesen und dieser Argwohn erhielt reichliche Nahrung durch die Uebersiedelung der jungen Dame nach dem weißen Schlosse. Er ahnte in Sievert einen Verbündeten, und wenn auch der Alte in Rücksicht aus den Hüttenmeister und gestützt auf die Erfahrung, daß seine Warnungen stets Oel in’s Feuer gegossen, consequent schwieg, so gab es doch Momente, wo sein unauslöschlicher Groll rückhaltslos durchdrang und in dem Studenten die Besorgniß, sein Bruder könne unglücklich werden, bis zur namenlosen Angst steigerte.

Er schritt jetzt schweigend neben dem Hüttenmeister her, der endlich, um der vermeintlichen Schüchternheit des jungen Menschen zu Hülfe zu kommen, einen Machtspruch gethan und ihn zu einem Besuch bei Jutta gezwungen hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_099.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2016)
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