Verschiedene: Die Gartenlaube (1869) | |
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War der Contrast zwischen den zwei Brüdern schon früher ein auffallender gewesen, so ließen sie sich jetzt, wo Berthold’s Erscheinung noch sehr unvortheilhafte Spuren der überstandenen Krankheit trug, in gar keiner Weise mehr vergleichen. Die überschlanke Gestalt des Studenten bog sich noch immer ziemlich matt und haltlos vornüber. Sein mageres, scharfgeschnittenes Gesicht mit der durchsichtigen Blässe und den sehr großgewordenen dunklen Augen erschien fast gespenstig, und das schmucke Cereviskäppchen, das früher keck über einer wahrhaft prächtigen Lockenfülle geschwebt hatte, saß jetzt fast trübselig auf dünngewordenen, spärlichen Haarringeln – im Vergleich zu der tadellos schönen Männergestalt des Hüttenmeisters sah der junge Mann verkommen, ja, beinahe häßlich aus.
In dem Flußbett, neben welchem die Beiden eine kurze Strecke hingingen, tobte eine lehmfarbene Wassermasse; das Ufergebüsch war zum größten Theil verschwunden, und nur noch die oberen Zweige der elastischen Weide ragten wildgepeitscht aus dem Schwalle. Das Wasser stieg von Stunde zu Stande. … Auf der Jochbrücke, die ein Stück oberhalb des Wehres über den Fluß führte, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen und verfolgte tiefbesorgt die Gegenstände, die in rasender Geschwindigkeit heranschwammen – es waren bis jetzt nur Baumstämme und weggeschwemmtes Scheitholz, die mit wuchtigen Stößen gegen die Brückenpfähle fuhren und das altersmorsche Bauwerk in allen Fugen krachen ließen.
Wie anders war die Scenerie hinter dem altmodischen, eisernen Gitterthor des Arnsberger Schloßgartens! … Wo der Schnee den intensiven Sonnenstrahlen nicht hatte weichen wollen, war er durch Menschenhände weggeräumt worden. In den langen Lindenalleen leuchtete der trockene, weißgebleichte Kies, die violetten Sterne der Leberblümchen und die gelben Krokuskelche guckten aus dem schwarzen Erdreich der Rondels, und über den weiten Rasenflächen lag der erste wunderfeine Anhauch der hervorkeimenden Grasspitzen. Hinter der Glaswand des großartigen Treibhauses aber dufteten und schimmerten alle Blüthenformen und -Farben, vom dunkeläugigen Veilchen an bis hinauf zur formenschönen, aristokratischen, aber seelenlosen Camellie.
Der Hüttenmeister bemerkte nicht, wie sich der Blick des Studenten verfinsterte, als das weiße Schloß hinter den blätterlosen Baumgruppen aufleuchtete – und es sah doch so gastlich aus; es hatte seine sämmtlichen Fensterläden aufgeschlagen, alle Balconthüren standen weit offen, Lehnstühle und Tabourets waren in ihr Bereich gerückt, und in die sonnengesättigten Lüfte hinaus kreischten Papageien und andere buntschimmernde Exemplare einer exotischen Vogelwelt, die auf ihrem Ring balancirend oder auch in der engeren Haft des Messingkäfigs aus den Balcons standen.
Im Hof, der, inmitten der drei Schloßflügel liegend, durch ein schwarzes Eisengitter vom Garten geschieden wurde, herrschte reges Leben. Der Minister war gestern angekommen und wollte heute noch nach A. zurück, wo für den Abend großer Hofball angesagt war. Wahrscheinlich stand der Moment der Abfahrt nahe bevor; die Stallbedienung schob verschiedene Wagen aus den Remisen und lief geschäftig von einer Thür in die andere. Im vollkommenen Gegensatz zu diesem Treiben lungerten zwei Lakaien in dem Portal, das nach dem Vestibüle führte. Offenbar beim Mittagstisch servirend – sie hatten Servietten über die rechte Schulter geschlagen – ließen sie sich während der Pause zwischen zwei Gängen von der Sonne bescheinen. Sie lehnten den Rücken gegen die Thüreinfassung und streckte die in Kniehosen und weißen Strümpfen steckende Beine lang hin. Keiner hielt es für nöthig, seine nachlässige Stellung zu verändern, ja, auch nur die unverschämt vorgeschobenen Fußspitzen ein wenig zurückzuziehen, als die beiden jungen Leute über die Schwelle schritten. Der Student maß ihre stupid hochmüthigen Gesichter mit einem funkelnden Blick und schlug sich mittels einer hastigen Bewegung das Käppchen fester auf den Kopf.
Droben an der Thür, die einen Corridor verschloß, blieb der Hüttenmeister einen Augenblick stehen, ehe er die Hand auf den Drücker legte.
„Nein, wenn das so fortgeht, da kann Unsereins factisch nicht mehr bleiben!“ sagte drin eine, weibliche Stimme, fast erstickt vor Aerger. „Na, die hochselige Gräfin sollte nur ’mal kommen und den Scandal mit ansehen! … Vom Tische fortgeschickt! Hat man so ’was schon erlebt? – Die kleine Gräfin Sturm vom Tische fortgeschickt, weil sie nicht um Verzeihung bitten will – und wen, frage ich? … Hören Sie, Charlotte, ich weiß noch recht gut, wie sie am Weihnachtsabend ankam in der gnädigen Frau ihrem blauen Sammetmantel, weil sie selber nicht einmal ein Mäntelchen auf dem Leibe hatte – Unsereins hätte sich zu Tode geschämt, so anzukommen. … Die eingebildete Person! Bei ihrer Mutter hat sie Hunger und Kummer leiden müssen. … Mir hat der Forstgehülfe Müller selbst erzählt, daß er gar manches Mal ein Auge zugedrückt hätte, wenn der alte Sievert Holz mitgenommen –“
In diesem Augenblick stieß der Hüttenmeister, flammendroth im Gesicht, die Thür auf. Lena, die hübsche Kammerjungfer der kleinen Gräfin, fuhr erschrocken zurück und schrie laut auf, wobei ihr die daneben stehende Collegin secundirte. Allein die kleine Dame hatte sich an Umgang mit Hofleuten gebildet und verlor lieber ein Stückchen persönlicher Ehre, als ihren guten Ruf hinsichtlich der Formgewandtheit; demgemäß hatte sie sich sofort wieder gefaßt. Anmuthig lächelnd legte sie die kleine, beringte Hand kokett auf ihr erschrockenes Herz, schritt aber dabei nach einer Thür zurück, deren einen Flügel sie einladend öffnete.
„Bitte, treten Sie einstweilen ein, Herr Hüttenmeister!“ sagte sie freundlich. „Fräulein von Zweiflingen ist noch bei Tische – es wird heute drunten im weißen Zimmer bei Seiner Excellenz dinirt.“
Der junge Mann war schweigend an ihr vorübergeschritten – auf der Schwelle aber wich er überrascht zurück; der geöffnete Thürflügel war breit genug, um auch dem nachfolgenden Studenten einen Einblick in das Zimmer zu gewähren. … Das Tageslicht, das draußen so golden auf Berg und Thal lag, schwamm grün, gleichsam als smaragdener Duft da drinnen – es drang durch leuchtend grüne, seidene Gardinen. Mit solch’ grünem Zauber umspinnt die Sage den Meeresboden – ein dichterischer Gedanke, den üppige Phantasie und ein raffinirter Geschmack der Ausschmückung dieses Zimmers zu Grunde gelegt hatte. Der strahlende Seidenstoff der Vorhänge rauschte auch über Thüren und Wände und lag auf den schwellenden Polstern der muschelförmig geschweiften Fauteuils und Causeusen, deren Contouren eine schmale, mit Perlmutter ausgelegte Holzeinfassung bezeichnete. … Bleiche Marmorgestalten, Nereiden und schilfumrankte Tritonen, hoben sich aus der Wanddraperie, und das grüne Licht spielte hin über die weißen Leiber, wie die leichte Schaumwelle des Meeres. Auf dem Fußboden lag ein dunkler Smyrnateppich, bedeckt mit Seelilien und langen Schilfblättern; Gruppen von Korallen und Muscheln rafften die Vorhänge und Portieren zurück, und an der Decke schwebte als Ampel eine riesige Lotosblume aus weißem Milchglas.
„Treten Sie nur näher, Herr Hüttenmeister!“ wiederholte die Kammerjungfer – ihr freundliches Lächeln wandelte sich zu einem unsäglich boshaften; sie schien sich an dem Befremden des jungen Mannes zu weiden. „Es ist ja ganz gewiß Fräulein von Zweiflingen’s Zimmer – nur ein klein Bischen verändert. … Excellenz haben gestern gefunden, daß die Motten in den wolldamastenen Möbeln seien, und da ist die Einrichtung aus dem Lieblingszimmer der hochseligen Frau Gräfin Völdern heraufgeschafft worden.“
Die schlanke, geschmeidige Gestalt des unseligen Weibes hatte einst auf diesen Polstern geruht – über ihr Nixenhaupt mit dem strahlenden, goldblonden Haar und den verlockenden Augen war der grüne Meereszauber hingeflossen. …
Der Student warf einen forschenden Blick auf das Gesicht seines Bruders – war es einzig und allein die Wirkung des bleichenden Lichtes da drinnen, unter der mit einemmal die Züge des Hüttenmeisters so statuenhaft starr und marmorweiß erschienen? … Er trat mechanisch auf die Schwelle, und der Student folgte ihm.
Nach den traurigen Erfahrungen, welche die Verfasserin mit den Dramatisirungen ihrer frühere Erzählungen gemacht hat, müssen wir im Auftrage derselben von vornherein gegen jede Dramatisirung der gegenwärtigen Novelle „Reichsgräfin Gisela“ Protest einlegen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_100.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2020)