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Seite:Die Gartenlaube (1869) 171.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1869)


unter den Blumen. Und dabei kann ihre Schönheit noch eine durchaus individuelle, an ein einzelnes Exemplar geknüpfte sein.

Mit dem besten Gewissen läßt sich eine längere Beschäftigung mit Kirchmann’s Werk bei alledem empfehlen. Grade eine gewisse dilettantische Färbung macht seine Arbeit angenehm. Man hat nicht die Orakelsprüche der gelehrten Schule, sondern die unbefangenen Geständnisse eines Mannes, der nichts zu sagen und niederzuschreiben vermag, was er nicht selbst geprüft und empfunden hat. Ohne Entlehnungen von seinen Vorgängern geht es freilich nicht ab bei einem solchen systematischen Aufbau. Die gewählten Beispiele sind jedoch alle aus dem eigenen Eindruck hervorgegangen und überraschen zuweilen durch ihren Freimuth. Ueber des Verfassers Ansicht von Goethe’s „Tasso“ z. B. würde die ehemalige Berliner Goethe-Gesellschaft keinen gelinden Schrecken empfunden haben. Dagegen ist auch manches seiner gewählten Beispiele zu sehr vom Zufall, von Berliner Begegnungen, guten Bekanntschaften hergenommen. Manches Beispiel ist dann auch wieder zu trivial. Ein Aesthetiker verweilt nicht immer bei Homer und Dante, aber er darf auch nicht hinuntersteigen zu Eckensteher Nante.

Ein neues Buch von Gervinus: „Shakespeare und Händel. Zur Aesthetik der Tonkunst“ (Leipzig, Engelmann, 1868) führt uns noch näher an die Gegensätze heran, die sich beim Streit über das Schöne befehden. Merkwürdig, diese neue Arbeit findet bis jetzt fast allgemeinen Widerspruch. Der berühmte Historiker hat in ein Wespennest gestochen, in die Selbstvergötterung der Musiker. Das ist die Folge geworden der „Lieder ohne Worte“ und der Herrschaft des Pianos im Salon, im Leben der Frauen, in der Erziehung der Kinder. Die Musiker haben ihre Kunst für eine völlig unvergleichliche erklärt. Notorisch ist sie allerdings insofern die allervollkommenste, als sie am sichersten über ihr Material gebietet. Die Instrumente müssen sclavisch ihre Schuldigkeit thun, was weder die Farbe, noch der Marmor, noch das Wort thun. Die unvollkommenste Kunst aber ist sie in Bezug auf ihren Inhalt. Dieser ist nicht Allen zu gleicher Zeit zugänglich und steht noch auf der Stufe jenes „Spieltriebes“, den Schiller, zu Herder’s Entsetzen, als den Anfang alles Künstlerthums bezeichnete. Jetzt wollen nun auch die Musiker den alten Vater Aristoteles Lügen strafen, der das ebenso bei den Idealisten wie bei den Realisten zu beherzigende Wort gesagt hat: alle Kunst beruhe auf Nachahmung. Sie behaupten nämlich, die Musik fände nichts in der Natur, was sie nachahme! Wahrscheinlich dachten sie dabei an Beethoven, der allerdings taub war.

Gervinus hat diesen Herren, die nie in einem Walde gewesen sein können, der vom Zwitschern der Vögel beinahe selbst Stimme gewann, nie auf einem Nachen, dessen Ruderschläge zum Gesang der Ruderer die untere Stimme bildeten, das Ohr geöffnet. Er hat vortrefflich die Anfänge der Musik erklärt und über die ersten historischen Entwicklungen derselben berichtet. Nur ist er in seiner verstimmten, düstern, man möchte fast sagen, vergrämelten Polemik zu weit gegangen. Er hebt die Vocalmusik über alle andere Musik hinaus und wirft der Musik der Instrumente Zweck- und Gedankenlosigkeit vor, selbst bei Beethoven! Alle seine noch so schön und gelehrt ausgeführten Erörterungen über den Ursprung der Musik aus dem Wort, aus dessen Dehnung und Betonung bei feierlichen Gelegenheiten, aus dessen Rhythmus und Accent in der Tragödie etc. scheinen ihn doch irregeführt zu haben. Der Uebergang von den Weherufen eines gequälten Ajax bis zu einer solchen Musik, die nach dem Glauben der Alten Berge versetzen, wilde Thiere zähmen konnte (wir haben leider nichts davon übrig behalten), ist ein so außerordentlich weiter, daß der geistvolle Autor besser gethan hätte, sich in seinen Analysen weniger in die Geschichte des Worts, als in die der Nachahmung der klingenden Natur zu verlieren, in die Einsamkeit der Hirtenknaben mit dem Haberrohr etc., kurz, beim Schiller’schen Spieltrieb zu verweilen. Leibnitzens Wort: aller Musik läge Zählen, die Rechenkunst zum Grunde, dieser tiefe Gedanke gründlicher ausgeforscht und die Ausdehnung geprüft, die im Gemüth des Menschen die Freude am Zählen, an proportionirten Verhältnissen und, so zu sagen, an klingender Mathematik haben kann, das würde den scharfsinnigen Denker von seinem mürrischen Schmollen auf eine Kunst geheilt haben, die allerdings herausfordernd genug jetzt geübt wird und eines aufräumenden Lessing dringend zu bedürfen scheint.

Wenn Sie aber fragen: „Ei, wie kommt denn Saul unter die Propheten? Was will jener gelehrte Heidelberger Herr Professor unter den Notenpulten und Tactirstöcken?“ so erinnere ich Sie an Sitten, die allerdings in Paris belacht werden würden, die Sie aber, als eine gute Deutsche und zumal als Frankfurterin, die ihren Cäcilienverein hochachten zu lernen auferzogen ist, in Schutz zu nehmen haben. In der That, in Heidelberg hat der berühmte Pandektist Thibaut die Sitte hinterlassen, daß Frauen, die inzwischen zu Hause ihre Kinder durch die Herausgabe der Puppenstube zu beruhigen suchen, gelehrte Professoren, die soeben auf der Anatomie einen Cadaver tranchirten, einen musikalischen Thee abhalten und mit den Notenblättern vor dem laokoontisch geöffneten Munde höchst feierlich Chöre aus dem Judas Maccabäus etc. etc. einstudiren. Denken Sie sich ebenfalls den Verfasser der deutschen Literaturgeschichte, der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts und der Analyse Shakespeare’s in diesen Reihen und, ich weiß nicht ob beim Baß oder beim Tenor angestellt, aber schwelgend vor Wonne, wenn die Kinder Israels eben einen stürmischen Angriff auf die Feinde Gottes zu machen beschlossen haben und dann auf das Fortissimo eines wilden Begeisterungschors das Pianissimo stillen Glaubens und trostreicher Zuversicht auf Erfolg eintritt. Dazu dann ein Kreis von in Heidelberg ansässigen Engländerinnen mit andächtigen Reminiscenzen aus einem Händel’schen Oratorium im Krystallpalast, in welchem dreißig Bässe, fünfzig Posaunen und tausend Sänger mitwirkten und jedes Wort, das man verstehen konnte, wenn nicht aus der Bibel entlehnt, doch der Bibel nicht ganz unwürdig war – etc. etc. Kurz, diese classische Hausmusik bezauberte den mit seiner Zeit zerfallenen Mann, dem schon lange nichts mehr am richtigen Platz zu stehen scheint und dessen Kritik auch vollkommen herausgefordert wird durch so vielerlei, was sich in diesen Tagen unendlich sicher und üppig gebehrdet. Jener Hausmusik ist sein Buch gewidmet. Die das letztere angegriffen haben, finden Schönes in Gervinus’ Parallele zwischen Shakespeare und Händel. Hier trenne ich mich von ihnen. Mir erscheint diese Vergleichung unfruchtbar. Was soll es, die Alpen mit dem Weltmeer vergleichen? Auch in den Alpen, ja, giebt es Wasser und das Wasser, ja, es thürmt sich auch zuweilen im Meer zu Bergeshöhen. Aber sind beide denn überhaupt commensurabel? Was besagt die Vergleichung? Shakespeare ist in seinem Lebensgang, in seinen Leistungen ein so völlig Anderer als Händel, daß ihre Zustammenstellung und das Herausbringen einzelner Aehnlichkeiten (wo bleibt nur allein Shakespeare’s Humor?) weder für den Einen noch für den Andern, am wenigsten aber für die allgemeinen Gesetze der Kunst etwas besagt. In den alten Schulen der Rhetoren nannte man eine solche Arbeit eine „Chrie“.

Ich schließe und, wie ich bekenne, noch ohne besondre Resultate. Aber, wenn Sie jetzt in einem Pariser Cirkel vielleicht St. Beuve oder Jules Simon begegnen und diese antworten Ihnen auf die Frage: „Meine Herren, was ist schön?“ mit einer Erklärung, die den Franzosen geläufig ist: „Madame, schön ist, was gefällt!“ so wissen Sie doch, daß sich Ihre Landsleute diese Frage schwerer gemacht haben und auch in der That mehr darüber wissen als andere Nationen. Das, worauf es ankommt, ist die richtige Verbindung der idealen Erklärung, derzufolge beim Schönen das Urtheil, und der realen, bei welcher das Gefühl betont wird. Das Gefühl muß wissen, wo es seine Empfindung unterzubringen hat. Das Schöne haftet nur insofern an den Dingen, als es auch an unsrer Betrachtung haftet. Gewiß hat Hegel Recht, die Schönheit einer Rose spricht für sich selbst und eine Camellie ist sogar schön, ohne daß sie uns die angenehme Empfindung macht, ihren Duft einathmen zu können. Das Schöne ist auch nicht die Farbe allein, die dem Auge wohlthut. Der Begriff des Schönen muß hervorgehen aus dem Ineinsverbundensein eines Gegenstandes wie er ist mit unsrer Vorstellung darüber. Der Apoll von Belvedere ist an sich nicht schön; er ist nur – richtig. Die Rose ist nicht schön; sie ist nur einfach eine Blume, wie sie ist und – immer sein sollte. Hierin liegt der Zauber des Schönen. In dem Gefühl, daß diese Welt unvollkommen und lückenhaft ist. Darum rührt uns das Schöne – wir trauern über sein Alleinstehen. Darum erhebt es uns – wir hoffen auf eine Welt der Vollkommenheit und der lückenlosen Harmonie.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1869). Leipzig: Ernst Keil, 1869, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1869)_171.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)
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