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Seite:Die Gartenlaube (1870) 262.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1870)


Weh mir! wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehen
Sprachlos und kalt, im Winde
Flattern die Fahnen.

Das ist der zweiundsiebenzigjährige Hölderlin, der wahnsinnige Titan Empedokles!

Wer dächte hier nicht an das langjährige Krankengefängniß eines andern deutschen Dichters, wer dächte nicht hierbei an Heinrich Heine? Und in der That bieten Beide, obgleich so wesentlich von einander verschieden, höchst interessante Vergleichungs-Momente dar.

Heine ein entschiedener Romantiker, wenngleich er die romantische Schule spöttisch negirt, – Hölderlin ein Romantiker auf der Grundlage antiken Geistes. Beide Volkspropheten und Bewegungsdichter; der Eine jedoch dabei sinnlich, schelmisch und frivol, der Andere ideal und voll dithyrambischen Schwunges. Beide werden von einer großen politischen Revolution ereilt und flüchten, zerfallen mit dem deutschen Wesen, nach Frankreich, wo der Eine aber der innersten Zerrüttung anheimfällt, während der Andere objectiv und heiter in alle neuen Lebensverhältnisse ausgreift. Heine, der Dichter der Liebe, der mit seinen Schmerzen cokettirt und wie ein Schmetterling von einer Blüthe zur andern flattert, – Hölderlin, der in seinem Hyperion der Liebe und Freundschaft einen unvergänglichen Altar errichtet, aber an einer unheilbaren Herzenswunde verblutet. Während Hölderlin in scharfen Sittensprüchen gegen die Nationalzerfallenheit der Deutschen eifert, behandelt Heine dasselbe Thema in launigen Zeitungsartikeln, wobei er mit dem Censor Versteck spielen muß. Beide erleben eine zweite Revolution; die französische Februar-Revolution findet aber in Heine nur noch einen lächelnden Skeptiker, – an Hölderlins gestörtem Geiste geht die französische Juli-Revolution spurlos vorüber, nur die Befreiung der Griechen versetzt ihn in eine schnell verrauchende Begeisterung. Beide stolze Freiheitsbäume sterben, ehe die Axt des Todes sie fällte, langsam ab, aber der Eine von der Wurzel heraus, der Andere vom Wipfel abwärts. Während Heine, in seiner Matratzengruft in der Rue Matignon, mit ungetrübter Geisteskraft den morschen Körper zehn Jahre lang gliedweise hinwelken sieht, fristet Hölderlin, das Haupt vom Irrsinn umdunkelt, ein vierzigjähriges Scheinleben.

Am 7. Juni 1843 endete endlich das stumpfe Dasein. Hölderlin starb mit dem Hyperion in der Hand und indem sein letzter Seufzer den Namen „Diotima“ nannte.

Wenn wir uns aber mit Thränen des Schmerzes von diesem Scheiden abwenden, so ziemte es uns wohl, freudig das hundertjährige Geburtsfest zu begehen, – den Geburtstag des Sängers voll Liebe, Geist und Hoffnung, der uns den Hyperion, das mysteriöse, aber herrliche Evangelium über die Natur, die Civilisation und die Zukunft der Menschheit, dichtete.




Die Zukunftsstrafe für Verbrecher.
Zur Beurtheilung der Todesstrafe.
Eine Mahnung an Erzieher.

Nicht durch Strafen peinigen oder wohl gar tödten wird man in Zukunft den Verbrecher, sondern durch geregeltes Arbeiten zu bessern versuchen. Diese Zeit wird aber dann gekommen sein, wenn die Menschheit mittelst naturwissenschaftlichen Unterrichts nach und nach eine höhere Stufe der Bildung erreicht hat und wenn sich der Mensch schon von Jugend auf eine genügende Kenntniß der herrschenden unabänderlichen Naturgesetze, wie solche im ganzen Weltall und auch im menschlichen Körper auftreten, angeeignet hat. Dann wird sich sicherlich der Verbrecher einer humaneren Anschauung und Beurtheilung als zur Zeit zu erfreuen haben und man wird ihn betrachten: entweder als bedauernswerthen Geisteskranken, der in der Jugend moralischen Schädlichkeiten fortwährend ausgesetzt war und deshalb den späteren Auswüchsen und moralischen Krankheiten nicht entgehen konnte; – oder als bemitleidungswürdigen Unglücklichen, dem in Folge falscher Erziehung, also ohne eigenes Verschulden, von Jugend auf schädigende Eigenthümlichkeiten, Gewöhnungen und Laster anerzogen und so eingeimpft wurden, daß dieselben für das ganze Leben unvertilgbar haften blieben und der Verwahrloste nicht im Stande ist, sie durch eigenen Willen abzulegen.

Verbrecher werden ebensowenig geboren, wie edle Menschen; Beide können nur zu solchen erzogen werden. Da nun das Kind für seine erste Erziehung, welche die Grundlage des Denkens, Thuns und Treibens durch das ganze Leben bildet, nicht verantwortlich gemacht werden kann, so ist man auch gezwungen, die aus frühester Jugendzeit stammenden schlechten Eigenschaften eines Menschen milder zu beurtheilen, als dies zur Zeit geschieht. Ebenso sollte man auch Diejenigen unserer Mitmenschen, welche von Jugend auf im Glanze, umgeben von Schmeichlern und Bedientenseelen, in dem Wahne großgezogen wurden, „sie seien etwas Besseres als das übrige Volk“, weniger verdammen als ihre Umgebung. – Die Erzieher sittenloser Menschen sind weit verächtlicher und strafbarer als ihre ungerathenen Zöglinge und nur insoweit etwas zu entschuldigen, als sie meist, und zwar ohne ihre Schuld, einen Begriff von vernünftiger Kinderzucht nicht haben konnten und als sie selbst ebenfalls eine richtige Erziehung entbehren mußten.

Wie fest die Eindrücke, welche in der frühen Jugend auf den Menschen einwirken, für’s ganze Leben haften, zeigen recht deutlich die Anhänger der verschiedenen Religionssecten, von denen fast ein jeder nur deshalb der festen Ansicht ist, daß sein Glaube der richtigste sei, weil er ihn in Folge der Gewöhnung von Jugend auf wie angeboren betrachtet, obschon es über tausend verschiedene Religionen giebt und diese doch in ihren Satzungen sich ganz bedeutend von einander unterscheiden. – Wie mit dem Glauben verhält es sich aber auch mit dem Aberglauben, der, wenn er von Jugend auf einen Menschen durch Gewöhnung beherrschte, fast nie wieder auszurotten ist. Welch gräßliches Unglück aber und welch unmenschliche, der Vernunft und Menschenwürde Hohn sprechende Thaten der von Jugend auf anerzogene fanatische Glaube und Aberglaube erzeugt haben, beweisen die scheußlichen Hexenverfolgungen und die schandbaren Glaubenskriege, die nichtswürdigen Mißhandlungen Andersgläubiger und die frühere rohe Behandlung Geisteskranker, deren Hirnleiden für ein Product der Sünde und des Teufels angesehen wurde. Wie ganz anders urtheilt man in der Gegenwart über alle diese unmenschlichen Gräuel der Vergangenheit, und wie haben sich nicht seit Bestehen des Menschengeschlechts im Verlaufe der Zeit die Ansichten über Human und Inhuman geändert! Sicherlich wird man auch in späteren Zeiten manche der Heldenthaten aus unserer Zeit mit ganz andern Augen ansehen als jetzt, und über Kriege dürften höchst wahrscheinlich unsere Nachkommen andere Meinung haben als wir.

Um nun zu einer anderen, richtigeren und humaneren Beurtheilung und Behandlung eines Verbrechers zu gelangen, dadurch aber auch die Zahl der Verbrecher für die Folge mindern zu helfen, lasse man sich Folgendes gesagt sein. Der Mensch, wenn er gesund geboren wird, bringt einen Apparat in seinem Körper mit auf die Welt, durch dessen Hülfe er denken, fühlen und wollen, also geistig thätig zu sein vermag. Dieser Apparat ist das Gehirn (in der Schädelhöhle) mit seinen Nerven und mit den Sinnes- und Empfindungsorganen. Von Haus aus besitzt nun aber das Gehirn eine bestimmte geistige Thätigkeit, sowie einen angeborenen Trieb zum Guten oder Bösen, zum Glauben oder Aberglauben, durchaus nicht; Alles dies muß in ihm erst angeregt und durch Gewöhnung anerzogen werden, ganz so, wie die verschiedenen Bewegungsapparate auch erst durch Uebung (Gewöhnung) ihre Geschicklichkeiten (Sprechen, Singen, Clavierspielen, Tanzen, Turnen etc.) erlangen müssen. Die Anregung zur geistigen Arbeit empfängt das Gehirn durch die Eindrücke, welche in dasselbe von der Außenwelt durch die Sinnesorgane und Sinnesnerven, aus unserem eigenen Körper aber durch die Empfindungsnerven hereingeschafft werden. – Menschen, die man gleich nach ihrer Geburt soviel als möglich den Eindrücken auf die höheren Sinne entzog (z. B. Caspar Hauser), blieben so lange geistlos,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1870). Leipzig: Ernst Keil, 1870, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1870)_262.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
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