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Seite:Die Gartenlaube (1871) 022.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


wenn Sie uns gestatteten, Sie durch den Garten zu Ihrem Schlosse heimzugeleiten.“

Es war jedenfalls ein wenig zudringlich, auch antwortete die junge Dame nicht darauf; doch wandte sie sich zum Gehen und darin lag denn freilich eine Art Erlaubniß, sie zu begleiten.

„Sie reden von deutscher Sentimentalität,“ sagte sie dabei, „während Sie uns den Krieg und alle seine Schrecken bringen – jetzt, wo der Krieg gar keinen Zweck mehr hat. Ist das deutsches Gemüth?“

Sie sprach das Wort mit einer unendlich bittern, spöttischen Betonung, die mich sehr lebhaft erwidern ließ: „Gewiß, Fräulein; nie war ein Krieg mehr eine Gemüthssache, als just der, den wir mit Frankreich führen. Ist die brausende Begeisterung, mit der sich ganz Deutschland in diesen Krieg gestürzt hat, nicht eine Sache des Gemüths? Ist das stürmische Verlangen jedes deutschen Mannes, die alten geraubten Reichslande mit dem tüchtigen deutschen Bruderstamme, dem reinen deutschen Blute darin, wiederzuerobern, sie zu ihrem Mutterlande zurückzuführen, nicht Sache des Gemüths?“

„Und ist es nicht äußerst gemüthlich,“ unterbrach mich Glauroth, „in dieser mondbeglänzten Zaubernacht, in dieser uns fremden Welt, an der Seite einer schönen jungen Dame durch abendliche Gärten zu wandeln?

‚In dem abendlichen Garten
Wandelt des Alcaden Tochter …‘“

Sie wandte sich mit einer ausdrucksvollen, für ihn nicht sehr schmeichelhaften Kopfbewegung von ihm ab und sagte zu mir gewendet: „Sie wollen erobern, das ist’s! Ein civilisirtes Volk will nie erobern. Aus Deutschland sind immer die Eroberer gekommen – die Hunnen, die Gothen, die Franken –“

„Die Ulanen!“ fiel der Primaner lächelnd ein, „das uncivilisirteste Volk von ihnen allen!“

„Und Frankreich,“ fuhr sie, ohne auf ihn zu hören, fort, „hat immer die traurige Aufgabe gehabt, sich dieser eroberungssüchtigen Nation zu erwehren, und sein bestes Herzblut dabei vergossen. Es ist kein Jahrhundert in unserer Geschichte, in welchem wir Frieden gehabt und nicht zu schweren Kriegen gegen Deutschland gezwungen gewesen wären. Welche Zeit wäre für die Welt die Ludwig’s des Vierzehnten gewesen, wenn er sich nicht in den Kriegen mit Deutschland in seiner besten Kraft, in seinen hochfliegendsten Plänen gelähmt gesehen! Doch ich kann nicht voraussetzen, daß Sie die Geschichte Frankreichs kennen, um …“

„Ihnen folgen zu können, Fräulein? In diese Anschauung freilich nicht; die Idee, den armen Ludwig den Vierzehnten bedauern zu sollen, weil er genöthigt war, dem unruhigen eroberungssüchtigen deutschen Nachbar die Pfalz zu verheeren, die herrlichen Rheinlande zu verwüsten, unsere Schlösser und Dome niederzubrennen, uns die alte Reichsstadt Straßburg fortzunehmen – in diese Idee kann ich Ihnen nicht folgen. Bedauern Sie auch den armen Cardinal Richelieu, daß er in Deutschland den unseligen dreißigjährigen Bürgerkrieg schüren und hetzen mußte?“

„O sicherlich – er that es mit schwerem Herzen; daß er kein Freund der Protestanten, hat er bei La Rochelle gezeigt, er hat sie da schwer genug getroffen; wie schmerzlich und hart mußte es für ihn, den Mann der Kirche sein, durch die Politik, durch die ewige Drohung, welche Deutschland für uns enthielt, gezwungen zu sein, die Ketzer dort zu unterstützen! Ja, mein Herr, ich bedaure den Cardinal Richelieu, der groß genug war, eine Schuld gegen sein religiöses Gewissen auf sich zu nehmen, um seines Vaterlandes willen!“

Mein Begleiter brach hier in ein leises Lachen aus. „Es scheint,“ sagte er, „die Geschichte wird in Frankreich nach ganz eigenthümlichen Heften gelesen.“

„Möglich,“ fiel ich ein, „daß man die Geschichte überall wie ein Advocaten-Plaidoyer für die eigene Sache vorträgt. … ‚Die Weltgeschichte ist das Weltgericht‘ soll vielleicht heißen: sie ist das große Tribunal, vor welchem die Advocaten der Völker, die Geschichtsschreiber ihre Vorträge für ihre Parteien halten. Der eigentliche Richter ist die Zeit!“

„Wir sind am Hause angekommen,“ unterbrach die junge Dame unsere gelehrte Unterhaltung. „Ich danke Ihnen, meine Herren!“ Sie machte eine kurze Verbeugung und ging rasch über die Terrasse davon, um in einer, wie es schien, nur angelehnt stehenden Seitenthür zu ebener Erde zu verschwinden.

„Wahrhaftig,“ sagte Glauroth ihr nachblickend, „das scheint ein reizendes Fräulein, und unsere Begegnung mit ihr im Mondschein wäre ein hübsches Abenteuer, wenn sie nicht leider ein vollkommener Blaustrumpf wäre!“

„Woraus schließen Sie das? Aus einigen höchst paradoxen Vorstellungen von französischer Geschichte?“

„Ich bitte Sie, eine Französin, die von der Politik Richelieu’s und Ludwig’s des Vierzehnten zu sprechen weiß!“

„Vielleicht hat sie es in Alexander Dumas‚Siècle de Louis quatorze‘[WS 1] gelesen.“

„Möglich freilich – nach solch einer zuverlässigen und gründlichen Quelle schmeckte es allerdings! Jedenfalls war es amüsant, die Dinge einmal so vollständig auf den Kopf gestellt zu sehen!“

„Amüsant? Mich hat es tief verstimmt; innerlich empört und zugleich traurig gemacht.“

„Ah – solcher Unsinn, solche durch und durch lächerliche Auffassungen?“

„Ich finde nichts Lächerliches daran. Ein Unrecht, das man durchaus keine Hoffnung hat gesühnt zu sehen, ein Irrthum, den es keine Möglichkeit giebt zu widerlegen, versetzt mich immer in ein Gefühl von schmerzlicher Ohnmacht, das ich nicht verwinden kann. Und dann: kommt es auf die ursprünglichen Thatsachen und die Wahrheit denn eigentlich an? In welchem Sinne, aus welchen Gründen, mit welchem Rechte Ludwig der Vierzehnte seine unheilvollen Kriege wider uns führte, das sind abgethane, zweihundert Jahre weit hinter uns liegende Dinge. Ob seine Motive gut oder abscheulich waren, was verschlägt es der Welt von heute? Die heute geltende Auffassung, die Deutung der alten Thatsachen ist das Wichtige, das Praktische dabei; wenn die Franzosen so denken wie dies Fräulein, so müssen sie in uns den Erbfeind sehen, wie wir nach unserer Auslegung der Thatsachen in ihnen den Erbfeind sehen; und wie sollen dann je zwei edle Nationen Europas wieder zu wahrhaftem Frieden kommen?“

„Ich sehe, die Aeußerungen dieses Fräuleins – Kühn nannte sie ja wohl der Geistliche? – haben Ihnen fürchterlich viel zu denken gegeben! Kommen Sie – soll die Streiterei zum Flusse hinab noch gemacht werden, oder wollen wir, was ich meinerseits vorzöge, uns der Wonne hingeben, uns einmal wieder in einem guten, warmen Bette ausstrecken zu können?“

„Ich glaube,“ sagte ich, „wir dürfen das ohne Gefahr. Wenn das Fräulein sich einer einsamen Streiferei durch das Gehölz hingeben konnte, so muß sie Gründe haben, einen Ueberfall von unseren Feinden für nicht denkbar zu halten.“

Ich ging mit ihm in den Nebenbau, um noch einmal nachzusehen, wie Pferde und Leute dort untergebracht seien, und kehrte dann zum Herrenhause zurück, wo mich in meinem Quartier mein Bursche erwartete. Ich hieß ihm seine Waffen zur Hand halten und sich im Uebrigen ruhig des gesunden Schlummers zu erfreuen, der ihn erwartete.

Mir kam der Schlummer für eine ganze Weile nicht. Ich hörte immer noch das eigenthümliche wohlklingende Organ des Fräuleins an meinem Ohre vibriren, und ich konnte die seltsame Gewißheit nicht überwinden, in welche mich das, was sie gesprochen, versetzt hatte. Ich dachte an das, was ihr von Klein auf von Leuten wie dieser Geistliche, der doch wohl großen Theil an ihrer Erziehung gehabt, und von klösterlichen Lehrerinnen eingeflößt sei, um ihre Ansichten zu bestimmen. Welche Meinungen die Priesterschaft von uns hatte und verbreitete und wie sie wider uns hetzte, wußten wir ja! Aber das nahm mir, wenn ich so sagen soll, den Stachel nicht, den das junge Mädchen mit seiner hochmüthigen Weise mir in’s Herz gedrückt. Es war vielleicht nur eine miserable jugendliche Eitelkeit, die es nicht überwinden konnte, von einem so hübschen, unter so romantischen Verhältnissen uns begegnenden Mädchen maltraitirt worden zu sein!

Die Nacht verging ziemlich ruhig. Nachdem ich am andern Tage meinen Dienstobliegenheiten genügt, die Rückkehr einer kleinen Streifpatrouille abgewartet, die Glauroth als Gefreiter mit zwei Mann ausgeführt, und vernommen hatte, daß der Oignonfluß hinter Chateau Giron keine Fähre oder prakticable Fuhrt zu besitzen scheine, daß nach den eingezogenen Erkundigungen die Franctireurs von gestern sich den Fluß abwärts nach der Richtung von Montbazon geflüchtet – als für den Tag also für mich „des Dienstes immergehende Uhr“ abgelaufen, nahm ich mir ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_022.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
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