Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Buch zu lesen, das Fräulein Kühn so interessirte. Sie besaß es und wollte es mir in mein Zimmer senden. Wir sprachen dann – ich benützte die Anknüpfung, um auf ein harmloses neutrales Gebiet zu kommen – von anderen Werken. Sie kannte manches deutsche Werk, doch nur ältere; die meisten Dramen Schiller’s, Callot-Hoffmann natürlich, Töpfer, den Genfer – bei einer Reise, die sie mit ihrem Vater nach Süddeutschland gemacht, hatte sie einige deutsche Schauspiele kennen lernen; über alles das sprach sie sich lebhaft aus, frisch und originell, oft sehr paradox und wunderlich freilich – aber mit einer innerlichen Theilnahme und liebenswürdigen Wärme, die zeigte, wie sehr solche Dinge ihr Interesse erregten; es war gar nicht möglich, davon nicht angesteckt, nicht auch warm zu werden, in einen heiligen Eifer zu gerathen, die paradoxen Ideen zu berichtigen, die Sachen in das rechte Licht zu rücken – und so kam es, daß das Gespräch sich gerade so verlängerte, wie es sich erwärmt hatte. Der Geistliche, der einsilbig zuhörte, schien dabei innerlich immer aufgeregter zu werden, er mochte weniger durch meine Ketzereien als durch den Gedanken geärgert sein, daß Fräulein Kühn das Alles nicht allein anhöre, sondern auch in sich aufnehme und in sich verarbeite, so daß er eine entsetzliche Last bekommen werde, ihr das Alles wieder zu nehmen und ihre Seele von diesem Gräuel zu reinigen! Zuweilen lag in dem unwilligen Ausdruck, mit dem sein Auge auf ihr haftete, etwas von leidenschaftlichem Aufflammen – zuweilen, und dann öffnete sich weit und ganz sein Auge, sah er sie mit einem träumerischen Blicke, fast wie schmachtend an – wie nur ihre Erscheinung in sich saugend, ohne zu hören, was sie sagte, ohne Anderes zu vernehmen, als den Klang ihrer wohltönenden Stimme. Mir kam der Gedanke, daß der arme Abbé eine Leidenschaft für seine schöne Cousine, oder was sie war, gefaßt habe!
Ich mußte mich, so umstrickt ich auch war und so wenig das Fräulein von unserer Debatte ermüdet schien, losreißen; ich ging und hatte die Genugthuung, daß man mir erlaubte, am andern Morgen zu kommen, um den Faust, den ich immer im Felleisen bei mir führte, als Revanche für den in Aussicht gestellten Michelet zu bringen.
In der gehobensten Stimmung, es war mir zu Muthe als habe ich mich in eine Art von Rausch hineingesprochen, kam ich in mein Zimmer und nahm den Faust zur Hand. Ich blätterte darin mit dem Gedanken an all die Anknüpfungen zu hundert Versprechungen, die dies wunderbare Buch bieten, an all die Aufklärungen und Erläuterungen, die das Fräulein, wenn sie nur mit ein wenig Ernst die Lecture beginne, von mir werde verlangen müssen. Gleich darauf trat mein Bursche ein.
„Wir müssen den Leuten hier in diesen Zimmern sehr störsam sein, Herr Wachtmeister,“ sagte er … „vorhin kam ein recht sauberes Dienstmädchen, das ein wenig Deutsch spricht, zu mir und meinte, sie hätten oben im ersten Stock noch viel schönere Fremdenzimmer, die sollten wir doch beziehen. Ich sagte, daran wär’ nicht zu denken, Sie müßten unten bleiben, denn wenn es einen Alarm gäbe, müßten Sie zur Hand sein und ich auch, und wir wollten auch die Herrschaft da oben und die kranke Madame nicht stören, und da meinte sie, die würde sich nicht stören lassen, und wenn ich hinaufziehen wolle, solle es mein Schaden nicht sein, ich solle ein gutes pour boire haben; die Herrschaft sehe nicht gern, daß diese Zimmer bewohnt würden, es schlafe immer der Herr Bischof von Autun darin, wenn er zum Besuche komme …“
„Und darum,“ fiel ich lachend ein, „dürften keine Ketzer darin schlafen?“
„Ich glaub’ nicht, daß es das ist,“ entgegnete Friedrich kopfschüttelnd, mit einem leiseren Tone. „Sie haben irgend etwas da hinten in der letzten Stube …“
„In welcher Stube?“
„In der letzten hinter meiner Kammer. Eine Tapetenthür führt hinein. Aber die ist verschlossen mit einem großen und schweren Vorhängeschloß; und als ich heute Morgen aufgewacht war und noch ein wenig in den guten warmen Kissen liegen blieb und dabei so recht träge und lässig meine Augen auf Alles richtete, was in meiner Kammer war, da sah ich auch auf den Boden und nahm den Schmutz von Fußstapfen wahr, die von Ihrem Zimmer her durch meine Kammer auf die Tapetenthür zu geschritten sein mußten, es mußten recht schmutzige Füße gewesen sein, die da hergeschritten waren; und das mußte gestern Abend gewesen sein, unmittelbar bevor wir in diesen Zimmern Quartier nahmen, denn sonst wären sie wohl weggefegt gewesen – es ist ja sonst Alles so sauber hier im Hause, und Dienstvolk ist genug da! Sagen Sie nicht, ich selber sei der Schmutzfink gewesen; das kann nicht sein, wir haben ja gestern den Tag über die Stiefel im Steigbügel gehabt, und eh’ ich in die Zimmer ging, hab’ ich mir die Sohlen an der Kratzbürste draußen im Flur jedesmal gewissenhaft gereinigt; also, wer kann gestern Abend noch mit diesem schmutzigen, lehmigen Schuhwerk hier gewesen und in die Stube hinter der Tapetenthür mit dem Vorhängeschloß gegangen sein? Haben Knechte da Etwas hineinzuschleppen gehabt, oder sind es gar die Franctireurs gewesen, die, was sie auf ihrem Wagen hatten, hineingerettet?“
Friedrich legte mit diesen Folgerungen seine scharfe Beobachtungsgabe und den ganzen durch diesen Krieg bei unseren Leuten geweckten Spürsinn an den Tag, und daß er zu combiniren verstand, zeigte er dadurch, daß er hinzufügte: „ich habe anfangs nicht weiter viel daran gedacht – als mir aber das hübsche Zöflein mit so freundlichem Lächeln und ihr Köpfchen drehend just wie ein junger Kreuzschnabel im Nest, den Vorschlag machte, wir sollten die Zimmer räumen … Sie wissen, Herr Wachtmeister, uns so freundlich zuerst anzureden, pflegt die Sorte sonst nicht … da dämmerte mir Etwas!“
„Es ist möglich,“ sagte ich, „daß sie da Etwas verwahrt haben, dessen Entdeckung durch uns sie nicht wünschen. Wer weiß, welche Schätze! Vielleicht ihren Wein – ihr Silber. Was geht es uns an? So lange Du das große Vorhängeschloß dort hängen siehst, kannst Du sicher und ruhig sein, daß wenigstens Nichts aus diesem Versteck hervorbrechen wird, was Dir etwas anhaben könnte!“
„Ich habe schon daran gedacht, ob die verfluchten Franctireurs vielleicht ihre Waffen dahinein geborgen!“
„Wenn das wäre, könnten wir uns ja damit zufrieden geben, daß sie dann unter Verschluß liegen.“
Damit endete die Unterredung. Als ich eine Weile nachher über den Hof zu den Pferden ging, warf ich einen Blick auf die Fensterreihe der von mir und Friedrich bezogenen Zimmer; ich sah, daß nach dem Fenster der Kammer, in welche ich meinen Putzcameraden logirt, noch ein Fenster, das letzte der Reihe, kam, und daß dieses vergittert war. Es war also ein Eckcabinet und mußte schon früher entweder zu etwas wie einer Schatzkammer oder einem Gefängniß für einen Verrückten gedient haben.
Es ist schon über sechs Jahre her, im zwölften Bande S. 437 hat die Gartenlaube ihre Leser von Theodor Pixis in München nach Betzingen führen lassen, um einen schönen deutschen Menschenschlag in wohlkleidender schwäbischer Tracht aus der Kirche kommen zu sehen. Ein getreuer Autor hat damals nicht ermangelt, denselben über absonderliche Sitten und Gebräuche des vielheimgesuchten Völkleins kaum noch eine Frage übrig zu lassen. Nur das „Vielheimgesucht“ verspricht uns eine neue Ausbeute, denn das bezieht sich auf die vielen Gäste, welche der Künstlerwelt angehören und die mich sogar zu der Kühnheit verführt haben, Betzingen – eine Malerheimath zu nennen, trotzdem hier nicht etwa die Maler, sondern allein die prächtigen Modelle heimathberechtigt sind, um derenwillen wir Herren mit den großen Mappen haufenweise hier unseren Aufenthalt nehmen.
Im schönen Schwabenlande, an der raschen fleißigen Gebirgstochter,
der Echaz, welche in kaum dreistündigem Laufe über hundert
Fabriken und Mühlen treibt, liegt die Perle der Trachtendörfer,
Betzingen, dessen Bewohnern und Bewohnerinnen weder die Nähe
der nüchternen fleißigen alten Reichsstadt Reutlingen, noch das
viel weiter entfernte studentenreiche Tübingen das Mindeste in
Tracht und althergebrachter Gewohnheit anhaben konnten; ja selbst
die drei im Dorfe liegenden Fabriken und die sonst Alles gleichmachende
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_024.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2019)