Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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No. 3. | 1871. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.
Als ich am andern Tage mich nach oben begab, meine kleine Ausgabe des Faust in der Hand, fand ich nur den Abbé.
Er nahm mich mit einer gezwungenen Höflichkeit auf, entschuldigte zu meiner großen Enttäuschung Fräulein Kühn, die bei ihrer Mutter, welche eine schlechte Nacht gehabt, sei, und fragte dann, nachdem er mich gebeten Platz zu nehmen: „Sie haben da ein Buch von Goethe – ich meine, Sie sprachen gestern davon? – für Fräulein Kühn.“
„So ist es; den Faust, den Fräulein Kühn nicht kennt.“
„Den Faust … ach ja – ich habe davon gehört; er hat sich dem Teufel verschrieben und dann die Buchdruckerkunst erfunden … es liegt eine gute Moral in der Sage … aber werden Sie Fräulein Kühn das, wie ich sehe, ziemlich starke Buch so lange lassen können, bis sie es ausgelesen hat? Sie wirft sich gewöhnlich mit solchem Eifer auf eine solche Lectüre, daß dieselbe nicht beenden zu können ihr eine vollständige Qual ist …“
„Ich kann Sie darüber beruhigen,“ sagte ich; „oder richtiger gesprochen, ich muß Sie leider mit der Erklärung beunruhigen, daß ich voraussetzen darf, unser Aufenthalt hier wird ganz so lange währen, um in vollkommener Ruhe einmal den Faust, den ersten wie den zweiten Theil, durchzulesen, und auch, ihn ein wenig zu studiren – denn ein kleines Studium erfordert er freilich, namentlich für eine Dame, ein junges Mädchen.“
Meine Antwort machte die Züge des geistlichen Herrn nicht heller. Seine Frage war offenbar geschehen, um eine Andeutung über die Dauer unseres Aufenthalts zu erhalten. Doch fuhr er sogleich fort:
„Ist es für junge Mädchen geschrieben?“
„Für eins wie Fräulein Kühn – weshalb nicht?“
„Sie haben Recht,“ versetzte der Geistliche. „Meine Cousine hat sich das Privilegium genommen, so ziemlich Alles zu lesen! Mein Gott, was ist dagegen zu machen! Man kann ihr die Bibliothek nicht verschließen, und sie ist so allein hier; wegen der Mutter auch die langen Wintermonate hindurch. Wenn sie noch die Musik hätte zu ihrer Beschäftigung! Aber sie behauptet, sie habe kein Talent dafür. Sie ist eine vortreffliche Haushälterin – das ganze Hauswesen steht unter ihrer Leitung; sie beaufsichtigt auch die Verwaltung des Gutes, überwacht den Regisseur, hat ihre Kranken und Armen, nimmt sich mit Rath und That der Communal-Angelegenheiten an – unser Regisseur hier ist der Maire der Gemeinde und so macht sich das so gleichsam wie von selbst; aber das Alles füllt ihre Zeit nicht aus, die Winterabende nicht; sie hat immer noch ganze Stunden, um sich einer Lectüre hinzugeben, die uns nicht besser macht.“
„Wenn sie belehrt, macht sie auch besser!“
„Das mag Ihre Anschauung sein, die meine ist es nicht, mein Herr! Aber da Sie ein halber Gelehrter sind und, wie Sie eben versicherten, Ihre Angelegenheit hier eine Dauer haben kann, die Ihnen wünschenswerth machen muß, eine Unterhaltung zu haben, so erlauben Sie mir, Ihnen die Bibliothek zur Verfügung zu stellen. Wenn Sie mich begleiten wollen, so will ich sie Ihnen zeigen.“
Er stand auf und ich folgte ihm. Während wir den Salon verließen, sagte er:
„Die Bibliothek stößt an unsere eigentlichen Fremdenzimmer – ich will Ihnen auch diese zeigen, überzeugt, daß Sie vorziehen werden, sich da einzuquartieren, wo Sie die beste Unterhaltung so dicht zur Hand haben. Die Zimmer sind wohl ausgestattet und sehr freundlich; Sie werden da nicht allein wie unten den Ausblick auf den vordern Hof, wo Sie Ihre Leute beobachten können, sondern auch nach der andern Seite eine reizende Aussicht auf den Garten, den Park und das ganze schöne Oignonthal haben. Eine Kammer für Ihren Burschen findet sich auch da …“
„Ich bin Ihnen sehr verbunden,“ unterbrach ich ihn, „aber ich danke für Ihre Güte; ich will Sie hier oben nicht belästigen.“
„Das thun Sie nicht, gewiß nicht,“ fiel er eifrig ein; „ich werde Ihnen die Zimmer zeigen und ich bin überzeugt …“
„Ich habe meine Gründe, das Quartier unten vorzuziehen.“
„Ihre Gründe?“ rief er aus, indem er mir, wie um in meinen Zügen zu lesen, das Gesicht zuwandte.
Offenbar hatte meine Aeußerung etwas, das ihn stutzig oder betroffen machte.
„Ich bin unten der Hausthür und meinen Leuten näher und ziehe das vor,“ sagte ich.
„So, so … es steht ganz bei Ihnen!“ erwiderte er, eine Flügelthür vor mir öffnend; sie führte in einen hellen schönen Saal, der der Eingangsthür gegenüber ein großes mit farbigen, gemalten Scheiben verglastes Fenster hatte. Unter diesem Fenster stand ein mächtiger runder Tisch und an diesem Tische, über eine aufgeschlagene Mappe gebeugt, stand Fräulein Kühn. Die Sonne warf eine Fülle vollbunten Lichts durch die farbigen Scheiben auf ihre in graue Seide gekleidete Gestalt – sie war in der That
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_037.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)