Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Es war an einem unfreundlichen Winterabend. In dichten, großen Flocken fiel der Schnee auf das schmutzige Pflaster des alten Wien. Die Passage war überall gehemmt. Die zusammengefegten Schneehaufen wuchsen zu immer höheren Hügeln an, die Arbeiter scharrten, schaufelten und fegten bei brennenden Fackeln um sie herum, und das glatt gewordene Pflaster machte das Betreten desselben gefährlich.
Gerade dort, wo diese alte Wiener Straßencalamität den entschiedensten Ausdruck erlangt hatte, mußte noch eine herrschaftliche Equipage durchdringen wollen! Sie war in voller Gala, und zu ihren beiden Seiten liefen oder trippelten nach damaliger Sitte zwei „Läufer“ in reicher Livrée, die aus einer kurzen Jacke, mit einem Gürteltuche um den Leib, Kniehosen, seidenen Strümpfen und einer farbigen Schirmkappe bestand. In ihren Händen schwangen sie hoch auflodernde Fackeln, deren Pechtropfen flammend zu Boden sanken und die Passanten zwangen, sich vor dieser neuen Bedrohniß dicht an die Mauern der Häuser zu drängen.
Der Wagen mußte stehen bleiben, denn es war für ihn unmöglich, in der engen Straße durch die ohne jede Ordnung angehäuften Schneemassen durchzukommen. Der Herr, der in der Equipage saß, öffnete den Wagenschlag.
„Ist es nicht möglich?“ fragte er einen Polizeifeldwebel, der eben in der Nähe stand.
„Vor einer Stunde nicht, Herr Graf,“ erwiderte höflich der Angeredete, und legte dabei salutierend die Hand an den Czako.
Hierauf sprang der Herr mit jener Eleganz, wie sie zu jener Zeit nur den Cavalieren eigen war, aus dem Wagen, und befahl dem Kutscher umzukehren, das heißt den Wagen nach der nächsten Straße zurückzuschieben und dort zu warten. Der Herr selbst aber hüllte sich fester in seinen Mantel und setzte seine Wanderung zu Fuße fort.
„War das nicht der ‚Musikgraf‘?“ fragte den Feldwebel einer jener Neugierigen, wie sie in Wien von jeher in den Straßen auf jedes Ereigniß lauern.
„Ja wohl,“ antwortete kurz der Gefragte und drehte sich um.
„Möchte wohl wissen, was den Herrn Grafen in diese Gegend führt?“ murmelte der Neugierige seinem Begleiter zu, und sogleich machten sich auch Beide davon, dem Herrn Grafen auf dem Fuße zu folgen.
Dieser bog in eine Seitenstraße, und nach wenigen Schritten schon trat er in das Thor eines der ersten Häuser.
Die Glocke, mit welcher der Klingeldraht in Verbindung stand, muß mindestens die Größe einer Capellenglocke gehabt haben, denn ihr Schall klang so mächtig, daß das ganze Haus davon erdröhnte und der Herr Graf nicht wenig davon überrascht war. Eine Frauensperson öffnete die Thür.
„Herr von Beethoven zu Hause?“ fragte der Graf.
„Bitte um Ihren Namen,“ erwiderte die Pförtnerin.
Der Graf gab ihr seine Karte. Die Frauensperson ging damit in das anstoßende Zimmer und kam, wie es schien, selbst erstaunt über den Erfolg, mit der Einladung einzutreten zurück. Als der Graf das Zimmer betrat, war Beethoven eben vom Claviere aufgestanden. Die Gedanken, welche so eben noch des großen Meistern Gehirn gleich Wetterstrahlen erleuchtet haben mochten, phosphorescirten noch auf seinem Gesichte und übergossen es mit jenem Ausdrucke einer großen Seele, welche selbst dem trivialsten Individuum imponiren muß. Da aber der Graf Dietrichstein in Wahrheit ein glühender Verehrer der Künste und ihrer Priester war, so erfüllte ihn des Meisters Erscheinung mit scheuer Ehrfurcht.
„Was steht zu Diensten, Herr Graf?“ wendete sich Beethoven höflich, aber nicht ohne einen gewissen Stolz an diesen, und schob ihm, da er sein „Conversationsbuch“ nicht fand, ein Blatt Papier zu, in das der Gast seine Antworten zu schreiben hatte.
Des Grafen Erwiderung lautete: „Ich gestehe, daß mir in diesem Momente die Bitte, die ich an Sie zu richten beabsichtige, so kleinlich vorkommt, und zwar kleinlich für Sie, daß ich es schon bereue, Sie deshalb in Ihrer Arbeit gestört zu haben ...“
„O, es ist gut, Herr Graf, wenn ich ausruhe. Also eine Bitte an mich! Wenn es in meinen Kräften liegt, bitte ich nur zu befehlen.“
„O, ich weiß, was man Ihnen schuldig ist, Meister!“
Beethoven runzelte ein wenig die Stirn. „Darf ich also fragen, womit ich Ihnen gefällig sein kann, Herr Graf?“
„Ich möchte mir die Ehre Ihrer Anwesenheit bei meiner nächsten Soirée erbitten. Sie werden dort viele Freunde, viele Bekannte finden.“
„O Herr Graf! Freunde? Vielleicht! ... Bekannte? Nun, das glaube ich schon eher ...“
„Darf ich also darauf rechnen? ...“
„Ich weiß die Ehre, die Sie mir erweisen, zu schätzen, und darum wäre ich undankbar, wenn ich nicht käme. Bitte nur Nachsicht mit mir zu haben.“
„Herr von Beethoven, ich danke Ihnen aufrichtig für die freundliche Annahme meiner Einladung.“
Mit sichtbar vergnügtem Gesichte verließ der Graf das Haus.
Beethoven’s Stimmung war gerade in jenen Tagen, wenigstens vorübergehend, eine bessere als gewöhnlich. Es war wieder eine jener Wandlungen in seiner Seele vorgegangen, welche diese allein über die Misère des irdischen Lebens zu erheben vermochten, die sonst mit ihren starren, kalten Armen den Künstler hätte erdrücken müssen, dessen Widerspruch mit den pygmäenhaften Anschauungen der Gesellschaft schon hätte genügen können, um ihn in Momenten blöden Verkanntseins und ekler Noth sich als ein fehlerhaftes, von der Gesammtheit losgerissenes Atom derselben fühlen zu lassen. –
Diese inneren Sonnenstrahlen, welche, trotz der ihn umgebenden Nacht, immer wieder befruchtend über den Geist des Künstlers streiften, sie hatten auch Beethoven, der moralisch, physisch und materiell so Vieles schon erlitten, immer wieder geistig zu jener titanenhaften Größe aufgerichtet, welche selbst die Canaille, die ewig am Boden kriecht, von Zeit zu Zeit stutzen machte. Er fühlte sich heiter umhaucht, und die historische Liebenswürdigkeit des Grafen Dietrichstein hatte um so mehr den Meister in seiner momentanen Stimmung gefördert, als jene in wahrer Bildung und inniger Verehrung des Künstlers wurzelte. Die Chronik der damaligen Tage bewahrt dafür viele kleine, aber charakteristische Züge aus dem Leben dieses Cavaliers im echten Sinne des Wortes.
Beethoven’s gute Gemüthsstimmung hielt noch am Tage nach der Einladung durch Graf Dietrichstein an. Mit fast heiterem Tone verlangte er in der von ihm gerne besuchten Gaststube zum „Blumenstöckel“ sein Glas Wein. Man konnte es ihm ansehen, daß er heute sogar gelaunt sein mochte, mit irgend Jemandem ein Gespräch zu führen, wobei ihm freilich seine Schwerhörigkeit wie immer im Wege stand. Der arme Meister! Sein Blick streifte forschend in der Stube umher, und fiel auf einen Gast, der an einem anderen Tische ihm gegenüber saß, und den er dabei ertappte, wie er ihm, Beethoven, seine volle Aufmerksamkeit zuwandte. Der Meister schien dies heute ausnahmsweise nicht mit Unbehagen aufzunehmen, denn ohne sein Gesicht zu verfinstern, wie er in ähnlichen Fällen oft that, hielt er den Blick des Andern geduldig aus.
Dieser nun fühlte sich durch Beethoven’s Freundlichkeit zu einem Entschlusse ermuthigt, mit dem er schon länger gekämpft zu haben schien. Er stand auf und näherte sich dem Meister, den er sogleich ansprach.
Beethoven zog einen Bleistift aus der Brusttasche, drehte die Speisekarte auf die unbeschriebene Seite, und schob Beides dem Herrn zu. Mit Hülfe dieses Verständigungsmittels entspann sich zwischen ihnen folgende Conversation:
„Verzeihen, Herr Capellmeister, aber ich gehöre zu Ihren Verehrern ...“
„Sehr schmeichelhaft.“
„Nehmen Sie es nicht ungütig, aber es thäte mir sehr wehe, wenn es wahr wäre, daß ein so großer Mann, wie Herr Capellmeister, manchmal in – Geldverlegenheit sein solle ...“
„Kommt aber wirklich dann und wann vor.“
„Es würde mir eine Ehre sein, wenn es mir erlaubt sein sollte, mit meinem Bischen aushelfen zu können.“
- ↑ Aus der demnächst erscheinenden Neuen Sammlung der Märzroth’schen „Bilder aus dem alten Wien.“ Die Redaction.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_066.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)