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Seite:Die Gartenlaube (1871) 078.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


jüngsten Ereignissen der Gegenwart gegenüber, die er auf das Schmerzlichste empfinden mußte, sich nicht stillschweigend verhalten werde, und in der That, schrieb er, als der Napoleonidenthron nach der Schlacht von Sedan zusammengebrochen war, einen Brief, der „an einen Politiker“ gerichtet, aber für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Man konnte, um gerecht zu sein, nichts gegen den französisch nationalen Standpunkt des Schreibers einwenden, noch weniger gegen die moralisch-religiösen Gedanken des Briefes, der dahin sich aussprach, daß die Franzosen die Schuld an dem Elend und den Schrecken des Krieges in sich selber trügen, in ihrer moralischen Verkommenheit, in ihrer religiösen Gleichgültigkeit. Ohne Seitenhiebe auf die Sieger geht es freilich nicht ab; dem Könige von Preußen wird das Schicksal des ersten an seinem unersättlichen Ehrgeize zu Grunde gegangenen Napoleon vorgehalten und der königliche Sohn an seine verklärte Mutter, die Königin Louise, erinnert und an deren unvergeßliche Worte: „Ich glaube nicht an die Gewalt, ich glaube nur an die Gerechtigkeit.“ Der Brief ist, wie alle diese Kundgebungen des Bischofs, mit hohem oratorischem Schwunge geschrieben, Dupanloup ist einer der ersten Prosaisten des heutigen Frankreichs, dabei geht durch die Zeilen ein wohlthuender Ton der Würde, Mäßigung und politischer Rücksicht. Ganz anders ist der zweite Brief, den er bei Gelegenheit des Festes des heiligen Aignan an die Pfarrgeistlichen von Orleans gerichtet hat. Aignan war der zweite Bischof von Orleans, derselbe, welcher bei dem Heranziehen des Hunnenkönigs gegen Orleans die Hülfe des Aëtius herbeigeholt und durch Rede und Beispiel die Gemüther der bereits verzagt gewordenen Bewohner von Orleans zu neuem Muthe, zu verdoppelter Widerstandsfähigkeit entflammt hatte. Wenn man diese Zeilen liest, die eigentlich an die Adresse von ganz Frankreich gerichtet waren, so bekommt man das Bild eines Priesters, der fanatisirend mit dem Kreuze in der Hand den Kämpfern voranschreitet, man fühlt, wie der Schreiber sich im Drange eines glühenden patriotischen Herzens, einer kühnen Einbildungskraft mit dem zweiten Bischof von Orleans identificirt, die Loirearmee mit den rettenden Schaaren des Aëtius und Attila mit – dem Führer der zweiten Armee. –

Als wir in Pithiviers vor dem Walde von Orleans lagen und warteten, was denn wohl der General Aurelles de Paladine unternehmen möchte, zu dieser Zeit war der Bischof der Gegenstand häufiger Unterhaltung zwischen mir und meinem Quartiergeber, dem Herrn Abbé, den meine lieben Leser bereits kennen. Dieser wußte mir viel zu erzählen von dem persönlichen Zauber seines Wesens, dem Niemand zu widerstehen vermöge, von der Macht seiner religiösen Ueberzeugungen, die schon Unzählige, namentlich Engländer und Amerikaner, in den Schooß der alleinseligmachenden Kirche zurückgebracht habe, von seiner unbegrenzten Liebesthätigkeit, die Alles der Noth des Nächsten opfere, von der patriarchalischen Einfachheit seiner Lebensweise, die sich mit dem Gewöhnlichsten und Geringsten begnüge, um das Uebrige an die nothleidende Menschheit abgeben zu können. Derartige Schilderungen wurden mir übrigens auch von anderer nicht geistlicher Seite gemacht, so daß ich eines Tages gegen den Herrn Abbé den Wunsch äußerte, wie sehr ich wohl wünschte, die Bekanntschaft eines nicht nur berühmten Mannes, sondern noch mehr ausgezeichneten Menschen zu machen.

„Das möchte Ihnen wohl schwer werden,“ meinte mein Wirth mit etwas spitzem Lächeln.

„Wie so schwer?“

„Weil Sie das nur in Orleans in dem Bischofshofe erreichen könnten.“

„Gewiß – und nun?“

„Weil Sie jetzt wenigstens nicht dahin kommen werden.“

„Nun, wir wollen ja sehen, Herr Abbé.“

Am 5. December Morgens wehte die preußische Fahne von der Kathedrale in Orleans, am Mittag fuhren wir in die Stadt der Jungfrau ein. Ich war mit dem festen Vorsatze in dieselbe gekommen, daselbst Nachforschungen nach dem Verbleib eines höchst achtbaren Collegen, des General-Correspondenten der Berliner Zeitungen im großen Hauptquartier, des Dr. Kayßler aus Berlin, anzustellen. Derselbe war einen Tag zuvor, ehe General von der Tann aus Orleans sich zurückzog, dahin gekommen, war dort zurückgeblieben, zum Kriegsgefangenen gemacht worden und von da ab verschwunden. Von Versailles aus war Befehl ergangen, in Orleans nach dem Verschwundenen zu forschen. Leider war das Resultat der Nachforschungen, welche der preußische Commandant Oberst Leuthaus anstellte, nur ein geringes; Kayßler hatte aus seiner Gefangenschaft in Orleans einmal an seinen Freund, den Redacteur der Spener’schen Zeitung in Berlin, Dr. Alexis Schmidt, geschrieben und seitdem war jede Spur von ihm wie verschüttet. Unter den Personen, welche sich für das Schicksal des deutschen Journalisten interessirten, war auch der Bischof Dupanloup genannt. An ihn beschloß ich mich zu wenden, um etwas Näheres über den Vermißten zu erfahren. Jedoch waren gewisse Verhältnisse mitwirkend, daß ich meinen Vorsatz nicht bei unserem ersten Aufenthalte in Orleans vom 5. bis 12. December ausführen konnte, sondern erst an den Bischof schrieb und in der erwähnten Angelegenheit um einen Ausweg bat, als wir von unserer achttägigen Excursion nach dem Süden, und nachdem die französische Loirearmee aus nördlicher nach Paris zugewendeter Richtung gänzlich nach dem Westen sich gezogen, nach Orleans zurückgekehrt waren. Am Tage darauf erhielt ich eine Einladung, den Bischof in den Stunden von fünf bis sieben Uhr, wenn mir das gelegen sei, zu besuchen.

Das bischöfliche Palais liegt unmittelbar hinter der Kathedrale; durch einen stattlichen Thorweg tritt man in einen großen Vorhof, dessen ganze Tiefe von dem Bischofspalaste eingenommen wird. Ueber dem Thorwege prangt das Wappen des Bisthums Orleans, und unter demselben hingen eine französische Flagge, eine andere mit dem Genfer Conventionszeichen und in der Mitte eine größere preußische, ein Anzeichen, daß in dem Palaste preußische und französische Verwundete liegen, darum stand an dem Thorwege auch ein Wachtposten, der zu dem Gerüchte Anlaß gegeben hatte, der Bischof sei von den Preußen in seiner Wohnung gefangen gehalten worden. Rechts von dem Thorwege liegt die Wohnung des Hausmeisters. Ich klingelte und frug nach dem Aufgange zu den Gemächern Monseigneurs. Der Hausmeister schien von meinem Besuche unterrichtet und schickte sich an, mich zu führen. Ich wollte auf den Eingang zu dem palastähnlichen Hauptgebäude zugehen, das sich in nichts von allen derartigen Bauten unterschied, der Hausmeister zeigte jedoch nach links und bat um Entschuldigung, wenn er mich nicht die große Treppe hinauf und durch die Empfangsgemächer führte, diese seien für die Verwundeten eingerichtet, er müsse mir durch einen Seiteneingang den Weg zu den Gemächern Monseigneurs zeigen. Wir durchschritten mehrere kleine Höfe, in denen preußische Soldaten Holz spalteten, traten durch eine unscheinbare Thür in einen Seitenflügel des Gebäudes und gingen eine ziemlich breite Treppe hinauf, an deren Ende mein Führer ein langes schmales Vorzimmer öffnete und mich eintreten hieß; das Gemach, in welchem ich mich befand, war ziemlich einfach eingerichtet, an beiden Seiten stand eine Reihe Stühle, an den Wänden hingen Aquarellbilder, Zeichnungen in Rahmen, wahrscheinlich die Arbeiten vornehmer und frommer Dilettantinnen und Beichtkinder des Bischofs, welcher der Freund, Berather, der Gewissensrath des legitimistischen Adels von Frankreich ist. Aus allen Theilen des Landes, und nicht immer Frankreichs, sondern auch Englands, kommen die schönen vornehmen Sünderinnen, um ihre Gewissensnoth ihm anheimzugeben; in Orleans befindet sich eine Colonie von hochstehenden katholischen Engländern und sehr oft wird auch der Bischof zu geistlichen Verrichtungen nach Paris berufen.

Als ich mir diese Bilder betrachtet hatte, hörte ich, wie draußen vor der Thür der Hausmeister mit Jemandem leise sprach, doch konnte ich nur die in halb ängstlichem, halb erstauntem Ton gesprochenen Worte vernehmen. Le Prussien! Zur Erklärung, daß der Sprecher mich als solchen erkannte, diene die Bemerkung, daß ich in der Wintercampagne einen langen preußischen Militärmantel und die preußische Infanteriemütze trage. Wer weiß, für welche wichtige Persönlichkeit der um seinen geistlichen Herrn besorgte alte Diener mich gehalten haben mag! Im nächsten Augenblick trat ein junger Abbé ein, glitt lautlos auf dem Teppich des Zimmers dahin, um mir ein links von dem Empfangszimmer gelegenes Gemach zu öffnen und mich zum Eintritt in dasselbe einzuladen, mit der Bemerkung, daß Monseigneur sogleich erscheinen werde.

Allem Anscheine nach befand ich mich in dem Arbeitszimmer des Bischofs. Es war ein großes Gemach in Quadrat, sehr hoch, und hatte zwei Fenster, die nach dem Hofe gingen. Die Wände waren mit einer dunklen Tapete bekleidet, die den Fenstern gegenüber liegende Wand war vom Boden bis an die Decke von einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_078.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)
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