Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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mit dem vierten Wurfe einen Vogel, dann aber verbrauchte er seinen ganzen Vorrath an Steinen, wohl an zwanzig Stück, ohne jeden Erfolg. Einer großen Raubmöve, die ich untersuchte, war der Stein trotz des dichten Gefieders in den Leib gedrungen und hatte sie so sicher wie eine Büchsenkugel getödtet.
Wahrhaft staunenerregend war die Unzahl von Vögeln, welche sich auf manchen Klippen angesiedelt hatten, während sie andere gänzlich unbesetzt ließen. Von ferne klang ihr Geschrei wie dumpfes Brausen und nur in der Nähe konnte man die keineswegs melodischen Stimmen einzelner Mitglieder dieser sehr gemischten Gesellschaften unterscheiden. Zuweilen regnete es förmlich Koth, wenn die aufgescheuchten Bewohner eines Nistplatzes über uns hinwegzogen, und mancher von uns empfing eine „sibirische Decoration“, wie der Matrosenwitz diese unwillkommenen Auszeichnungen taufte.
So war der Juni gekommen und zur Hälfte vergangen. Seit wir hier kreuzten, waren bedeutende Veränderungen eingetreten; prächtige warme Tage waren nicht selten, am Lande schmolz der Schnee, die Sonnenseite der Thäler schmückte sich mit freundlichem Grün, und große Mückenschwärme spielten im Sonnenschein. Auch in Sibirien war der Frühling eingekehrt. Vom Meere waren die Eismassen fast gänzlich verschwunden, mit ihnen die Walrosse und die meisten Seehunde, sie alle waren mit dem Eise nordwärts gezogen in ihre nahrungsreichen Sommerquartiere.
Viele Schiffe hatten diesen Fischgrund schon verlassen, und auch wir folgten endlich den seltener werdenden Walen nach Norden. Am Cap Navarin vorbei ging die Fahrt quer über Anadyr-Bai und hinein in die Beringstraße. Ungeheure Flüge von Enten zogen hin und her und lieferten uns manches schmackhafte Gericht; auch einzelne Walroßheerden suchten ihre Verspätung durch Eile gut zu machen, und wenn man diese trotzigen Gesellen so dahinschwimmen sah, konnte man sich die Fabel von den Meermännern recht wohl erklären. Auf stillem Wasser wie auf einem Flusse glitten wir an der asiatischen Küste entlang, die in milder Schönheit vor uns lag, während nach dem amerikanischen Ufer hinüber der Blick sich in nebeliger Ferne verlor. Schäumend zog das Schiff seine Bahn durch die bald prächtig grün, bald schwarz, bald bräunlich scheinenden Fluthen; vorbei an jäh abstürzenden dunkeln Klippen, romantischen Fjorden und langgestreckten grünen Thälern. Dort standen viele Tschuktschendörfer und überall herrschte reges Leben; wir sahen Menschen, Hunde, einzelne weidende Renthiere, und begegneten vielen Baidaren, deren Insassen den Bewohnern des Meeres nachstellten und uns mit schallendem Zuruf begrüßten. Nirgends erblickten wir einen Baum oder auch nur einen Strauch.
Bald zeigten sich vor uns zur Rechten die hohen vielnamigen Felsensäulen der Diomeden, starr und steil inmitten der Straße aus den Fluthen ragend wie mächtige Pfeilerreste einer zertrümmerten Riesenbrücke. Meilenweit zur Linken erhob sich der letzte Wächter des Polarmeeres, das weit in die Straße hereintretende Ost-Cap. Drohend und düster liegt dieser einsame Bergkoloß, der anstürmenden See, der Gewalt des Eises jähe trotzige Felsenwände entgegenstellend, den Gipfel von Wolken verhüllt. Wie lebhaft erinnerte ich mich hier Chamisso’s, welcher vor einem halben Jahrhundert, auf dieser selben Stelle und angesichts dieses Caps, seinem Wunsche, das Eismeer zu sehen, entsagen mußte, weil Capitain Kotzebue vom „Rurik“ unter mancherlei Vorwänden nicht weiter zu fahren wagte. Wir aber segelten frisch hinein in den „Arktischen Ocean“, dessen Gewässer sich im Sonnenglanze vor uns ausbreiteten.
Tagelang kreuzten wir nordwärts, ohne mehr Eis zu sehen als hier und da einen einzelnen Block, welcher verwittert und verloren im Wasser trieb und höchstens einem behäbigen Seehunde zum Ruhesitz diente. Zuweilen kam ein Schiff in Sicht und schwarze Rauchsäulen am Horizonte verriethen andere, welche glücklich in der Jagd gewesen waren und „auskochten“.
Wir selbst erlegten in wenigen Tagen mehrere Wale und hatten einen äußerst anstrengenden Dienst, so daß wir in fünfzig, sechszig Stunden kaum vier Stunden ungestört schlafen konnten; in Folge der übergroßen Müdigkeit schliefen die Leute häufig auf den Ruderbänken ein. Die Eßlust überstieg alle Grenzen. Die farbigen Portugiesen von den Azoren und den Capverdischen Inseln[1] namentlich, welche zum ersten Male den Einfluß eines kalten Klimas fühlten, zeigten einen erstaunlichen Appetit. Die fettesten Speisen, von denen wir uns anderswo mit Widerwillen abgewendet hätten, waren uns hier sehr willkommen, und gleich den nordischen unverbesserlichen Anti-Vegetarianern aßen wir mit Vorliebe Speck und Fleisch.
Der altgewohnte Wechsel von Tag und Nacht fand schon längst nicht mehr statt, die Sonne ging für uns weder auf noch unter; stetig kreiste sie über dem Horizonte, am Mittag im Süden um Mitternacht im Norden stehend. So hatten wir viele Wochen lang einen einzigen Tag. Das so verrufene Eismeer machte einen wider Erwarten günstigen Eindruck auf uns. Das Wetter war überraschend mild, der Wind meistens sehr schwach; zuweilen regnete oder schneite es wohl, ungemüthlich war aber eigentlich nur der Nebel. Auffallend war der Einfluß desselben auf die Mannschaft. Einige Gemüther verdüsterte er, andere stimmte er weich, die Mehrzahl aber reizte er auf zu Zank und Streit, und ein lange dauernder Nebel führte fast regelmäßig zu Prügeleien. Allerdings wirkte der nüchterne Wasserdunst nicht gleich alkoholhaltigen Getränken auf den Raufsinn, wohl aber verhinderte er uns die Jagd zu betreiben, und brachte uns so die Langeweile mit ihrem bösen Gefolge.
Bis jetzt waren wir immer glücklich in der Jagd gewesen und hatten schon manches Faß mit Thran gefüllt und kostbares Fischbein in großen Haufen aufgestapelt, so daß wir äußerst zufrieden sein konnten. Nur einmal wandte uns das Glück den Rücken zu. Ganz in der Nähe des Schiffes tauchte unerwartet ein riesiger Wal auf. Leise – um ihn nicht zu verscheuchen – und in größter Eile setzten wir ihm nach. Kaum aber hatte das erste Boot die nichtsahnende Beute erreicht und „festgemacht“, da flog es auch schon vollständig aus dem Wasser, schlug über und verstreute seinen Inhalt, Menschen und Geräthschaften, mit lautem Klatschen in das Wasser. Ein vielstimmiges Wehe- und Wuthgeschrei erscholl. Die unfreiwillig Badenden wurden aufgefischt und von dem einen Boot an Bord gebracht, während die übrigen zwei den Angriff fortsetzten. Dem ersten Officier glückte es, den Wal mit einem Sprenggeschoß tödtlich zu verwunden, doch ehe er aus dem Bereich des wüthenden Thieres gelangen konnte, traf dieses mit einem furchtbaren seitwärts gerichteten Schlage seines Schwanzes den im Boote stehenden Harpunier, daß der Unglückliche, todt und zerschmettert, wie ein Kegel durch die Luft wirbelte. Im nächsten Augenblicke zertrümmerte dann ein zweiter Schlag das Boot und die Leute versanken in die eisigkalte Fluth. Zum Glück waren wir in der Nähe und konnten die Erstarrten in Sicherheit bringen.
Ein Mann war getödtet, mehrere hart getroffen und zwei Boote zerschlagen. Der Anstifter dieses Unheils war dann gesunken wie ein Stein und für uns verloren. Ein anderes Schiff soll mehrere Tage später den aufgedunsenen Leichnam gefunden und aus ihm hundertfünfzig Faß Thran gewonnen haben. – Derartige Unglücksfälle ereignen sich übrigens im Eismeer ziemlich selten. Der nordische Bartenwal ist äußerst furchtsam und selbst verwundet lange nicht so kampflustig wie manche seiner Verwandten in wärmeren Meeren. (Siehe: Fang eines Potwals. Jahrgang 1869. Nr. 38) Er ist durch schlimme Erfahrungen klug gemacht und um seinen Verfolgern zu entgehen, auch der reichlicheren Nahrung wegen hält er sich gern zwischen dem Eise auf.
Dort suchen ihn dir Walfänger vorzugsweise und in Folge dessen begegnen sich die Schiffe sehr häufig oder kreuzen in Gesellschaft an den Eisfeldern auf und nieder. Man besucht sich gegenseitig oder unterhält sich mittelst des Sprachrohres.
Die erste Frage bleibt unabänderlich: „Wie viel Wale habt Ihr?“ und dann werden andere wichtige Nachrichten ausgetauscht, wobei Neid, Aerger oder auch Freude über das eigene Glück sich in ergötzlicher Weise äußern. Die Schiffe liegen beigedreht oft viele Stunden nebeneinander oder segeln auch gemeinsam vorwärts. Dann spähen die Ausluger doppelt scharf von ihrer luftigen Höhe und die schlauesten Manöver werden ausgeführt, um dem Rivalen jeden Vortheil abzugewinnen, falls eine „Thranbutte“ sich irgendwo zeigen sollte. Dennoch hält man viel auf gute Cameradschaft und die kühnen Freibeuter respectiren jene Rechte, welche sie sich für den Walfang aufgestellt haben. Leider aber verlieren, selbst so nahe am Nordpole, die Gesetze nichts von ihrer bekannten Biegsamkeit. –
- ↑ Vorlage: „Isneln“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_086.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)