Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Ein fremdes Boot suchte Zuflucht bei uns und wir nahmen, nach gutem Brauch, die Verirrten auf. Sie blieben nur kurze Zeit bei uns, da sie unter den bald nah bald fern tönenden Nebelhörnern zufällig das ihres Schiffes erkannten und sich froh von uns verabschiedeten. Nicht immer sind Boote so glücklich. Bisweilen müssen sie mehrere Tage auf einem fremden Fahrzeuge bleiben oder auch, ohne Zuflucht zu finden, lange umherirren. In einigen Fällen sind auch Boote und Mannschaften während eines Nebels auf immer verschwunden.
Die Gefahr, welche uns bedrohte, war für Walfänger eine keineswegs ungewöhnliche; es galt, sich auf den freien Wasserflächen zu halten und womöglich einen Ausgang zu gewinnen. Aber immer häufiger tönte das warnende „Eis voraus!“ der Wache und unsere geschicktesten Manöver halfen zu nichts; es war ersichtlich, daß die Felder sich schlossen. Hätten wir nur dann und wann einmal frei ausschauen können!
„Eis voraus!“ – „Eis zur Linken!“ Blitzschnell folgen sich die Befehle des Capitains; Menschen trampeln, Taue schießen, Segel flattern, und ächzend schwingen die Raaen herum. Doch wie durch Zauberei erscheint nun Eis vor und hinter uns, an allen Seiten. Kein Entrinnen ist möglich. Ein dröhnender Stoß erfolgt, Poltern und Knirschen – herumschwingend gleitet das Schiff nochmals weiter, läuft aber gleich darauf von Neuem fest. Wir waren gefangen.
Mit dem Nebel war wie gewöhnlich eine auffallende Kälte eingetreten; die Feuchtigkeit verdichtete sich am Thauwerk und tropfte wie Regen nieder, bald aber vereiste Alles an und über Deck, so daß Gehen und Steigen beschwerlich wurde. Zum Ueberfluß bildeten sich in der Höhe auch noch Eiszapfen, welche bei der geringsten Erschütterung klirrend herabfielen und einige Leute nicht unerheblich verwundeten. Am nächsten Tage trat Windstille ein, aber der Nebel blieb gleich dicht. Er leitete den Schall außerordentlich gut. Aus weiter Entfernung hörten wir Menschenstimmen wie von einer andern Welt herüberklingen und konnten sogar einzelne Worte und Gespräche verstehen; ohne Zweifel hatten wir Leidensgefährten.
Unsere Gefangenschaft wurde nachgerade langweilig und ungemüthlich; die Feuchtigkeit drang selbst in den geschlossenen Raum hinab, das Bettzeug wurde naß und dumpfig, ebenso Bücher und Papier. Trockene Kleider gab es schon lange nicht mehr. In unserer Nähe schienen zahlreiche Walrosse zu lagern, unausgesetzt hörten wir dröhnendes Gebrüll oder besser Gebell; alte Matrosen behaupteten, das verkünde gut Wetter. Wirklich begann es auch bald sich aufzuhellen, und zuweilen konnten wir schon ein Stück des blauen Himmels über uns erkennen.
Der schwere Dunst begann sich zu zertheilen; die Schwaden färbten sich silbern, zogen und wogten um uns, ballten sich zusammen und dehnten sich in lange Streifen. Immer mehr erweiterte sich unser Gesichtskreis, einzelne Durchblicke öffneten sich und als endlich der verhüllende Schleier sich erhob, schien eine neue Schöpfung aus dem Chaos herauszutreten. Eis ringsum, so weit das Auge schweifte, Block an Block geschoben, flimmernd und blitzend im grellen Sonnenschein und dazwischen einzelne dunkle stille Wasserflächen. Da lag auch ein Schiff im Eise, dahinter ein zweites und in der Ferne ein drittes; die andern waren entschlüpft. Walrosse lagerten in großer Anzahl um einzelne Wasserlöcher und scheue Wale hoben den Obertheil ihres riesigen Kopfes empor, um lang und mächtig zu athmen. Zwanzig Schritt vom Schiffe schob sich ein harmloser Seehund auf das Eis und blieb, da wir ihn unbehelligt ließen, trotz des Lärmes an Bord gemüthlich liegen, sich wohlig von Seite zu Seite und auf den Rücken rollend, damit ja jede Stelle des glänzenden Felles von der lieben Sonne beschienen würde.
Da wir Zeit genug hatten, unternahmen wir weite Wanderungen über die Felder und statteten unseren Leidensgefährten Besuche ab, obgleich der Weg nichts weniger als eben war. Die dicke Schneedecke verbarg manche verrätherische Spalte, welche erst untersucht und dann übersprungen werden mußte. Ueberraschende Luftspiegelungen unterhielten uns fortwährend durch ihre Gauklerkünste. Das Eis dehnte und reckte sich in der Ferne gleich Gebirgen empor, oder erschien in umgekehrter Lage verdoppelt. Menschen vergrößerten sich in einiger Entfernung zu riesenhaften Gestalten, oder schrumpften zu winzigen Männlein zusammen. Das geheimnißvolle Treiben des Lichtes war zuweilen sinnverwirrend und oft wußte man Schein und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden.
Wo Seehunde und Walrosse lagern, da ist der Eisbär unvermeidlich. Uns machte es stets viel Vergnügen, die Bewegungen dieser Räuber zu verfolgen, wie sie hier und da zwischen den Unebenheiten auftauchten, bald ein Wasserloch durchschwammen, bald von einer Erhöhung Umschau hielten, immer berechnend, wie ein unvorsichtiger Seehund am besten zu beschleichen sei. Sie wußten auch ganz genau, was Schiffe und Menschen zu bedeuten hatten; unsere besten Jagdkünste waren ihnen gegenüber noch viel zu plump.
Der Polarbär wird seiner riesigen Kraft und Größe, seiner Vielseitigkeit wegen der König des Eismeeres genannt. Außerordentliche Schärfe der Sinne und raffinirte Schlauheit besitzt er in hohem Grade, sonst aber hat er eine echte Bärennatur und wie die meisten reißenden Thiere verliert er, in der Nähe besehen, viel von seiner Schrecklichkeit. Auch ihm ist es ergangen wie seinem Vetter, dem grauen Bären Amerika’s: Erzählungen von einzelnen grausigen Abenteuern haben die ganze Sippschaft in Verruf gebracht. Er hat einen schönen Pelz und wehrt sich seiner Haut, wenn es sein muß, doch flieht er den Menschen und selbst gereizt oder verwundet greift er selten an. Thut er es aber, dann ist er freilich ein achtungswerther Gegner, dem gegenüber nur Geistesgegenwart und ein zuverlässiges Gewehr die Gefahr zu einer geringen machen. Die Jagd im Wasser ist ein bloßes Abschlachten.
Man findet die Polarbären in der Nähe der Küste, oft auch Tagereisen weit davon im offenen Meere, meistens aber auf dem Eise. Unermüdlich durchstreifen sie ihr weites Reich, alles fressend, was sie erlangen und bezwingen können. Gesättigt treiben sie gern Allotria und ganz ihrer Herrscherwürde vergessend jagen und balgen sie sich auf dem Eise im lustigen Durcheinander. Auf solchen Spielplätzen ist der Schnee zertrampelt und zerwühlt, geneigte Ebenen scheinen als Rutschbahnen benutzt worden zu sein und die breiten Fährten sowohl, als auch Flocken vom Pelz verrathen, wer daselbst gehaust. –
Obgleich vollständige Windstille herrschte, begann doch das uns gefangen haltende Eis sich allmählich auseinander zu schieben und wir unternahmen herrliche Bootfahrten durch die schmalen spiegelglatten Canäle.
Leise gleiten wir entlang. Das Wasser ist voller Leben; Milliarden winziger Flohkrebse und anderer Thierchen tummeln sich umher, prächtige Quallen in allen Farben und Formen leuchten aus der Tiefe gleich wunderbaren Blumen der See. Eingebettet in der dunklen Fluth ruht das Eis und es klingt und knistert leise in der Sonnenwärme; nur das Gebrüll einiger Walrosse und das mächtige „Blurr–r“ „Huf–f“ auftauchender Wale unterbricht die sonntägliche Stille.
Um eine Eisklippe wendend erschrecken wir einen zufriedenen nordischen Einsiedler, einen Seehund, welcher in wilder Hast von seinem kalten Sitz hinab in das Wasser plumpt. Sofort aber steckt er dicht neben uns wieder den Kopf heraus und senkrecht auf und nieder schaukelnd mustert er uns mit großen klugen Augen. Sein komisch grimmiges Gesicht mit martialischem Schnurrbart geziert, seine Harmlosigkeit, sein drolliges Benehmen machen ihn zur lustigen Person des Eismeeres. Eine drohende Bewegung mit dem Arm und dem Kopf und er duckt sich vorsichtig, um sofort wieder an einer andern Stelle aufzutauchen. Ueberhaupt scheinen die Seehunde außerordentlich neugierig zu sein; ein kurzer Pfiff, ein Klopfen am Bootsrande verfehlt selten, mehrere von ihnen an die Oberfläche zu bringen, und dann begucken sie schnaufend, pustend und mit unerschütterlichem Ernste die Urheber des ungewöhnlichen Geräusches.
Die Walrosse sind viel scheuer. Mit Ausnahme der sehr alten und wahrscheinlich griesgrämigen Bullen, welche sich gern abgesondert halten, lagern sie meistens in größerer Anzahl auf dem Eise und verschwinden beim geringsten Anzeichen von Gefahr sofort im Wasser. So unbehülflich sie auf dem Trockenen sind, so gewandt zeigen sie sich im Wasser und sollen da gefährliche Gegner sein. Wir hatten keine Gelegenheit sie von dieser Seite kennen zu lernen, da wir sie nur selten jagten und noch seltener erlegten. Wegen ihrer dicken zähen Haut blieben die Büchsenkugeln meistens wirkungslos und wirkten nur sofort tödtlich, wenn sie am Hinterkopfe in das Gehirn eindrangen. Wenn auch noch so schwer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_094.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)