Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Die Zeiten, in denen es selbst in gebildeten Kreisen gewöhnlich war, von den „Zeitungsschreibern“ gering zu denken und von ihrem angeblichen Lügenhandwerk verächtlich zu reden, sind erfreulicher Weise auch in Deutschland längst vorüber. Wenn es noch hie und da einmal ein eingebildeter Starkgeist versucht, das Capitel der Tatarennachrichten, Seeschlangen und Zeitungsenten zur Verhöhnung der Journalistik zu benutzen, so belehrt ihn der spärliche Widerhall solcher Witzeleien in besserer Gesellschaft sofort, daß man sich heute der hohen und wichtigen Stellung wohl bewußt ist, welche die Tagespresse in der modernen Culturwelt einnimmt, und daß es widersinnig und unerlaubt ist, Geringschätzung eines Factors der Civilisation zur Schau zu tragen, dem Alle einen mehr oder minder beträchtlichen Theil ihres geistigen Besitzes verdanken.
Bei alledem ist die deutsche Journalistik noch weit davon entfernt, im großen Publicum diejenige Anerkennung und Achtung zu genießen, deren sie in ihren eigentlichen Repräsentanten in hohem Grade würdig ist, und selbst von hochgestellten Persönlichkeiten, denen man eine richtigere Würdigung der Presse sollte zutrauen dürfen, sind in jüngster Zeit ebenso engherzige wie unrühmliche Maßregeln gegen einzelne Zeitungen und Journalisten ergriffen worden. Doppelt unerfreulich sind solche Erscheinungen im Verlaufe eines Krieges, dessen weitgreifende Rückwirkungen auf das Volk gerade von der Presse – mit sehr wenigen Ausnahmen – in jener würdigen und heilsamen Richtung erhalten worden sind, die für die Ehre und Zukunft unseres Vaterlandes so verheißungsreiche Bürgschaften bietet.
Es würde hier zu weit führen, die Höhe und Vielseitigkeit jener Anforderungen, welche man heutzutage an eine große Zeitung stellt, in ihrem ganzen Umfange darzulegen; doch mag das Eine hier betont werden, daß der Leser, wenn er beim Morgenkaffee seine Zeitung zur Hand nimmt und durch bequeme Lectüre des hübsch gedruckten Blattes sein Verlangen nach neuen Thatsachen und Anregungen mit Behagen stillt, wohl nur selten daran denkt, welches Quantum mühsamer Arbeit in solch’ einem leicht übersichtlichen Bilde der Tagesgeschichte niedergelegt ist. Vielleicht ist es Manchen nicht unerwünscht, von dieser Thätigkeit eine etwas nähere Vorstellung zu gewinnen; versuchen wir’s, dieselbe in kurzen Worten zu skizziren.
Ein großes politisches Journal – und wir wollen zunächst nur von einem solchen sprechen, weil sich ja von ihm auch die genügenden Schlüsse auf kleinere Blätter ziehen lassen – macht vor Allem in seiner einheitlichen Leitung ganz bedeutende Ansprüche. Wenn auch ein Chefredacteur bei der enormen Masse von Manuscripten, Zeitungen und anderen Drucksachen, die er zu lesen und zu studiren hat, nicht im Stande ist, allen einzelnen Fragen auf dem mannigfaltigen und ausgedehnten Gebiete der Tagesinteressen mit solcher Genauigkeit zu folgen, daß er über jede derselben ausführlich und eingehend zu schreiben und dadurch bei seinem Leserkreise auf die Auffassung und Behandlung der Sache bestimmend einzuwirken vermöchte, so ist es doch durchaus nöthig, daß er, als der geistige Leiter eines zur Mitarbeit an den öffentlichen Angelegenheiten berufenen und befähigten Organs der Tagespresse, über das Wesentliche aller allgemeinen politischen und socialen Fragen richtig orientirt und mit der Stellung seines Vaterlandes und Volkes zu denselben genügend vertraut ist. Hierzu ist aber eine vielseitige Beschäftigung mit der wissenschaftlichen und der Tagesliteratur, eine ausgebreitete Bekanntschaft mit den praktischen Bestrebungen der Gegenwart und mit deren bedeutendsten Vertretern, sowie eigene Bethätigung im öffentlichen Leben unumgängliches Erforderniß. Es ist eine reine Unmöglichkeit, mit der Erfüllung aller dieser Anforderungen die tägliche Verabfassung eines auf der Höhe der publicistischen Situation stehenden Leitartikels zu vereinigen, und der Chefredacteur muß für diese Arbeit auf unterstützende Kräfte, namentlich bei mehr technischen und specifisch-wissenschaftlichen – juristischen, finanziellen, militärischen – Fragen zählen können. Dennoch wird Niemand verkennen, wie sehr auch eine publicistische Capacität durch die richtige, tactvolle und gediegene Direction eines Journals schon in der Sorge für den Leitartikel in Anspruch genommen wird.
Der nachrichtliche Theil eines großen Journals setzt sich aus
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_097.jpg&oldid=- (Version vom 23.2.2020)