Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Marie Kärner hielt ihren Vater schreiend umfaßt. Sie wußte, „daß es nicht möglich sei“, wie sie später erzählte. Der alte Bürgermeister zitterte heftig und machte mit seiner Runzelhand ein Kreuzzeichen über sich selber.
Die Magd Anna jammerte im Zimmer herum. Der alte Canarienvogel im Bauer flatterte matt mit den Flügeln, als sähe er ein fremdes Gesicht am Gitter seines Käfigs vorübergehen.
Und der alte einsame Mann war todt. Er war schwer gestorben, mit einem Geheimnisse auf den ersterbenden, gelähmten Lippen, mit einem Geheimnisse, das nun Niemand mehr lösen konnte, und das vielleicht seinen Geist ruhelos umhertrieb an der verlassenen Stätte, die er bewohnt hatte, oder an dem Orte, wo ein ungerächter Mord verübt worden war.
Man konnte ja dem seligen alten Kärner Alles zutrauen. Ein Makel, von welchem die ganze Gegend wußte, lag ja auf seinem Leben, seit seinem vierundzwanzigsten Jahre schon.
Er war der Sohn des reichen Kaufmanns und Großhändlers Johann Jakob Kärner gewesen, dessen Geschäft schon von den Großeltern her in dem Städtchen, im Lande, an jedem ausländischen Verladungsplatze selbst, berühmt und geachtet war. Johann Jakob Kärner hatte seinem Geschäfte die wundervollste Ausschmückung gegeben mit Spiegelfenstern und Genfer Tapeten. Daneben hatte er sein Schlößchen „Landhaus“ außerhalb der Stadt reizend möbliren lassen – ebenso prachtvoll wie der alte heruntergekommene verschwenderische Graf Lobenstein sein Schloß ausschmücken ließ von Monsieur Léonard de Vienne.
Der Sohn der Firma, Daniel Kärner, ein schöner Junge mit idealer Tscherkessen-Physiognomie, war zwar sehr brav in der Handlung, aber dabei auch zu frohherzig und frisch in seinem Wesen für einen ehrsamen Kaufmann. Er war fleißig im Comptoir, aber er hatte stets die neueste Cravattenschleife und das neueste Mode-Jaquet. Und er wurde sogar im Nachbarschlosse Lobenstein gern gesehen; Comtesse Adalie Lobenstein hatte fast auffallende Zuvorkommenheit für ihn. Er durfte bei den Partien, welche er, sie und ihr Cousin Graf Stasingen zu Pferde machten, stets an ihrer rechten Seite reiten. Man konnte nicht recht daran glauben, aber man mußte endlich auf den Gedanken kommen, daß eine Liaison zwischen dem reichen Kaufmannssohne und der armem Comtesse möglich sei! Eine Liaison, die zu einem schrecklichen Auftritt führen mußte, auf welchen sich schon die ganze Stadt freute – und dieser Auftritt kam.
Aber er kam seltsamerweise nicht aus der Liaison, sondern anderswoher. Der junge Daniel war ein steter Besucher des Schlosses, und selbst wenn tausend fashionable Gäste da waren, wurde er von Comtesse Adalie ausgezeichnet. Mit dem Cousin des Schlosses, dem wegen Schulden quittirten Officier Grafen Stasingen, war er fast unzertrennlich. Die Beiden ritten auf Jagden miteinander, sie fuhren in das Städtchen, um da zu übernachten, kurz, der junge Daniel Kärner war in der Adelsfamilie „gesotten und gebraten“, wie man im Städtchen zu sagen pflegte. Dieser aristokratische Umgang, die Cameradschaft mit einem jungen Grafen, die Liebe für eine schöne Comtesse, dies Alles hatte den Sohn des reichen Kaufherrn vielleicht in größere Ausgaben gestürzt; kurz, er erbrach eines Nachts die Casse seines Vaters, und verwundete dabei den alten Cassendiener, der ihn ertappte, auf den Tod.
Die Sache war fast unglaublich, undenkbar. Denn Daniel Kärner war der Liebling seines Vaters gewesen, welcher gewiß keine Summe gescheut haben würde, um seinen Sohn aus einer gewöhnlichen Verlegenheit zu retten. Die Sache war, wie gesagt, unglaublich, unerklärlich. Das Unglück bestand darin, daß Daniel mit dem offenen Geständniß zögerte, bis die Sache schon gerichtlich anhängig war. – Er war ertappt worden, wie er die Casse seines Vaters erbrach, und er hatte dabei den alten Cassendiener verwundet. Die Sache wurde zwar so gut als möglich vertuscht, aber „die Spatzen pfiffen sie auf dem Dache“, wie wiederum ein Lieblingsausdruck des Städtchens lautete.
Daniel Kärner war verloren für die Stadt. Er mußte in’s Ausland gehn. Dort blieb er lange, lange Jahre in einer Fabrik, welche mit dem Geschäft seines Vaters in gar keinem Zusammenhange stand. Er mußte dort sein Leben ganz neu beginnen, als Heimathloser, als Ausgestoßener. Nach diesen langen, langen Jahren starb sein Vater, und der Verstoßene wurde nun der Erbe des großen Vermögens und des großen Geschäftes. Aber das alte Geschäft, welches unter dem Vater geblüht hatte bis zum letzten Augenblicke, war unter dem Sohne und Erben unmöglich geworden; seine Abwesenheit durch so viele Jahre hatte wohl vermocht, den Makel von dem Bürger, aber nicht den Makel vom Geschäftsmanne zu entfernen. Wer hätte mit einem ehemaligen Diebe Geschäfte machen wollen?
Daniel Kärner gab also das Geschäft auf. Er verkaufte es an einen alten Geschäftsfreund seines Vaters, und zog sich nach der Abwesenheit von dreißig Jahren in das Landhaus zurück, ein alter, gebeugter, stiller, menschenscheuer Mann, ein Wittwer, der in der Fremde eine Fremde geheirathet hatte, die zehn Jahre nach der Geburt einer Tochter starb. Die Verstorbene sollte, wie es hieß, eine barmherzige Schwester aus Krain gewesen sein, die den Kärner in einer Krankheit im Hospitale von Laibach gepflegt hatte.
So lebte denn der einfache alte Mann mit seiner Tochter Marie sein Leben weiter, freundlos und still. Das „Landhaus“ war nur tausend Schritte vom „Schlosse“ entfernt, aber kein Verkehr herrschte zwischen den beiden Gebäuden, obwohl in dem Schlosse alte Bekannte des alten Mannes lebten – der Graf Stasingen, welcher durch den Tod eines Fürstenonkels sehr reich geworden war, hatte die verwaiste Cousine Adalie geheirathet, Aber ein unerträglicher Stolz herrschte in dieser Familie, welche jetzt aus dem Grafen, der Gräfin und einem Sohne Leon bestand.
Nur zweimal in zwanzig Jahren, erzählte man sich, habe der alte Kärner das Schloß betreten. Zu später Abendstunde, zu Fuß, sei er über einen Feldweg hingekommen, und noch vor gänzlichem Nachtdunkel sei er auf demselben Wege wieder zurückgekehrt. Niemand wußte, was er dort gewollt habe. Aber die Bedienten schworen darauf, es sei der alte Kärner gewesen, und er sei vom Grafen in der Bibliothek empfangen worden. Zweimal in zwanzig Jahren!
Es war am Tage nach dem Leichenbegängnisse. Wenn eine Leiche ein Haus verlassen hat, so ist das Haus selber wie gestorben. Die Wände machen den Eindruck der Leichenstarrheit, es ist, als hätten sie vor einigen Stunden noch eine belebende Seele in sich gehabt, die nun entflohen sei. Die Möbel stehen nicht mehr ganz an demselben Flecke, denn ein Zimmer mußte geräumt werden für die Aufbahrung. Jedes Möbelstück ist gleichsam wie mit einem Trauerflore der Erinnerung bedeckt, welcher einen wehmüthigen Eindruck macht auf Jeden: in diesem Sorgenstuhle hier pflegte ja der Verstorbene zu sitzen, diese Uhr war er aufzuziehen gewöhnt, dieses schwarze Andachtsbuch haben seine Hände zuletzt durchblättert, die wohlgeordneten Bücher im Schranke, die nun verkauft werden sollen, scheinen unverständliche Hieroglyphenbände geworden zu sein für jeden fremden Blick. Das Trinkglas auf der Commode sieht aus, als ob es nie mehr gefüllt werden könne, und die Krücke in der Ecke, die sonst Zimmer auf, Zimmer ab klapperte, ist jetzt verstummt, wie vom Schlage gelähmt – für ewig. Die Seele des Verstorbenen scheint jetzt plötzlich in allen leblosen Dingen des Hauses gelebt zu haben und jetzt aus ihnen entflohen zu sein, wie sie es aus dem Körper ist, der sich jetzt draußen im Grabe durch die Fugen des Sarges mit der Erde zu vermischen beginnt. Jedes Atom des Hauses, jedes Geräth ist todt geworden mit dem Tode der gestern begrabenen Person; mag diese nun der alte Hausherr, ein blühendes Mädchen, oder ein kränkelndes kleines Kind gewesen sein. Und mögen noch so viele lebendige Personen zurückgeblieben sein im Hause … die Räume erscheinen leer, verlassen, grabesstill.
Und mag keine Thräne der Trauer, keine Miene des Leides sichtbar werden bei den Hinterbliebenen: ein unendlicher Schatten, der nicht von der Sonne herrührt, sondern vom Tode, liegt über Allem und Jedem, über dem erblindeten Spiegel, in dem gedämpften Tone der Stimme, in dem letzten scharfen, unaustreibbaren Geruche des Weihrauchs.
Das Haus ist todt. Und so war das „Landhaus“ am Tage nach dem Begräbnisse des alten Daniel Kärner.
Marie Kärner saß am Fenster des Wohnzimmers im Erdgeschosse, und vor ihr stand ihr Vormund, der Bürgermeister
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 442. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_442.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)