Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Mitternacht vorüber, noch offen seien und ein Theil der Bevölkerung jubele, der andere fluche. Während ich bis zum 19. December in meinem Mauerloche saß, gingen in Meißen und Umgegend die üblichen Haussuchungen vor; sogar eine Esse wurde befahren, um mich darin zu fangen. Doch das rechte Loch konnte das Gericht nicht finden, und der Stadtrichter K. mußte noch vor seinem Ende die Demüthigung fühlen, daß ich seinem Bereiche entronnen sei. Hier kann ich nicht unerwähnt lassen, wie nach dem Eingange meines Urtheiles sogar ein Herr vom Stadtgericht auf offenem Markte in die Hände klatschte, um seine Freude darüber zu bezeigen. Die niedrige Gewinnsucht hatte Manchen zu falscher Anklage verleitet; doch die Zeit wischt alle Unbilden weg, und auch ich gedenke nun in Ruhe der bewegten Tage.
Während ich elf Tage im Mauerloche saß, wurden die bisher vom Stadtgericht geführten Untersuchungen dem Gerichtsamt übergeben, in Folge dessen meine Frau und ihr Dienstmädchen polizeilich gemaßregelt wurden. Die erstere entging der Verhaftung durch eine Ohnmacht, die andere wurde eines Abends in’s Gefängniß abgeholt und ihr die Freiheit versprochen, wenn sie Etwas gestände. Da sie aber fortgesetzt erklärte, daß sie Nichts wüßte, ließ man sie nach zweitägigem Einsperren wieder frei. Krank, abgehärmt, erfroren und heulend ist die arme Karoline bei meiner Frau wieder eingetreten. Nachdem der Lärm wegen meiner Flucht sich gelegt und süddeutsche Berichte die Nachricht gebracht hatten, daß ich an einem gewissen Tage auf dem Wege nach der Schweiz oder Frankreich gesehen worden sei, fing ich wieder an zu handeln. Ein Paar alte glänzende Lederhosen, eine sehr defecte grüne Pikesche, ein kattunenes Halstüchlein und ditto Weste, eine große streifige Zipfelmütze mit schöner großer Bummel und ein Paar wollene Fausthandschuhe bildeten meine Ausstaffirung. Da ich als Victualienhändler in Dresden einzuziehen gedachte, so kämmte ich die Haare verworren in’s Gesicht, wusch mir dasselbe mit Leim und Asche, nahm einen großen mit einem weißen Tuche zugebundenen Korb auf den Rücken und einen Knotenstock in die Hand und ging am Nachmittage des 19. December von Cölln fort. Die Tochter Pützner’s, als Bauermädchen angezogen, begleitete mich, weil ich meinen Füßen nicht trauete und damit ich, im Falle mir etwas zustieße, gleich Hülfe an der Hand hätte. Mit dem Abend wanderten wir in Dresden ein. Fortwährend war ich bemüht, meiner Rolle als armer Händler treu zu bleiben, und die Unterhaltung wurde in dem breitesten Mügelner und Leisniger Dialekte überlaut von mir geführt, indem der schwere Korb anscheinend meine Gestalt niederdrückte. Dabei wich ich Niemandem aus, Kothpfützen aber waren mein liebster Weg, da ich mir durch das Spritzen auch die Polizei vom Halse hielt. In der Altstadt angekommen fragte ich einen jungen Mann: ‚Wue wuahnt dar Ducter, dar de kleenen Kinger brengt?‘ Ein homerisches Gelächter des Gefragten zeigte mir, daß die Noth mich etwas schauspielern gelehrt hatte. Er hieß mich mitgehen und brachte mich an das Haus meines Freundes X., wo meine Begleiterin mich verließ.
Im Vorhause empfingen mich zwei Dienstmädchen, welche schnippig erklärten, daß ich wiederkommen müsse, weil der Herr Doctor erst nach zwölf Uhr nach Hause komme. Da ich aber doch nicht ging, so wurde die Frau Doctorin herbeigerufen, der ich im breitesten Gewäsche meine Krankheit auseinandersetzte. Nachdem ich dadurch die Mädchen verscheucht hatte, richtete sich meine gebückte Gestalt auf und aus meinem Munde erklang ein hochdeutsches ‚Guten Abend, Frau Doctorin!‘ Diese geleitete mich in die Stube, schickte die Mädchen zu Bett, und wir begannen über meine Vermummung zu lachen. Hier hörte ich, daß bereits am Siebenten Abends meine Flucht bekannt und auch in Dresden die Besatzung zusammengetrommelt und -gepfiffen worden sei, um mich zu haschen. Nachdem inzwischen der Doctor nach Hause gekommen, legte er verschiedene chirurgische Instrumente auf den Tisch und erklärte mir auf mein befremdetes Befragen, daß er mich operiren müsse, da der Steckbrief sage, daß ich eine Warze an der Nase habe. Auf meine Entgegnung, daß diese einige Tage vor meiner Flucht von selbst abgefallen sei, meinte er, nun könnte ich auf meiner Flucht vollkommen sicher sein, da jeder Gensd’arm mir nach der Warze oder deren Wunde sehen würde. Als ich mich entpuppt und gewaschen hatte, verwandelte ich mich in den Weinhändler Glühmer aus Börtewitz bei Mügeln und fuhr noch dieselbe Nacht in Geschäften nach Freiberg, wo ich mit Sonnenaufgang im Gasthofe zum wilden Mann anlangte. Hier wollte die Wirthin erst nichts von meinen Anerbietungen wissen; als ich aber mit meinem Kutscher ein gutes Frühstück verzehrt hatte, ward sie freundlicher, bestelle einen halben Eimer Wein und theilte mir mit, wo der und jener meiner alten Weinkunden wohnte. Unter diesen befand sich auch der Bergofficiant X., und ich beeilte mich, diesen aufzusuchen. Aus dem Weinhandel wurde hier natürlich Nichts, da wir näherliegende Dinge zu besprechen hatten.
Meine Füße waren jetzt so geschwollen und bluteten an so vielen Stellen, daß ich ziemlich zwei Tage bei meinem Freunde still liegen mußte, um endlich, mit Babusen beschuhet, Nachts zwölf Uhr mit der Post nach Chemnitz zu fahren. Im Postwagen wurde ich mit dem Bürgermeister aus Schneeberg bekannt, der eben von den Sitzungen der Landtagskammer zur Feier des Weihnachtsfestes nach Hause fuhr. Hatte der Mann, als er in der Kammer wegen meiner Flucht die Minister interpellirte und die niedern Beamten der Nachlässigkeit beschuldigte, auf mich den Eindruck eines Bullenbeißers gemacht, so war er in der Nähe gar nicht so gefährlich; denn nachdem wir uns während der Fahrt freundlich unterhalten, lud er mich ein, die Feiertage bei ihm zuzubringen, und stellte mir gute Geschäfte in Aussicht, da sein Weinkeller der Füllung bedürfe. Ich nahm sein Anerbieten dankend an und bedingte mir nur, erst in’s Voigtland reisen zu dürfen, um dort Geld einzucassiren. Wenn der gute Mann noch lebt, so werden ihm diese Zeilen wohl verrathen, warum ich nicht gekommen bin.
Von Chemnitz fuhr ich am nächsten Morgen über Borna nach Altenburg. Ein ehemaliger Postsecretair aus Meißen, ein rother Altenburger und eine preußische Dame bildeten mit mir die Reisegesellschaft nach Borna. Um die Aufmerksamkeit von mir abzulenken, schlug ich das Tagesgespräch, die Politik, an. Der Altenburger kramte seine rothen Ansichten aus, so daß sich die preußische Dame an meine Seite mit den Worten flüchtete: ‚Mir ist’s unheimlich bei dem rothen Menschen.‘ Daraus merkte ich, daß ich mir mit Erfolg ein recht conservatives Air gegeben habe; ich trug dies nun auch immer zur Schau. Der Postsecretair bereitete mir freilich bedeutende Verlegenheiten, und das Blut schoß mir vielmals in’s Gesicht; nur glaubte ich, man bemerkte es nicht, da ich mein Gesicht mit einer guten Portion Carmin gefärbt und eine Brille mit großen Gläsern auf der Nase hatte. Der Secretair erzählte nämlich von den Ereignissen der Maitage in Meißen, blickte mich dabei stets an und versuchte, mein Wort zur Bestätigung seiner Angaben zu erlangen. Ich erklärte ihm kalt, daß ich von den Maitagen wenig oder nichts wisse, da ich zu jener Zeit gerade auf einer Geschäftsreise im hohen Gebirge gewesen, auch Meißen nicht kenne und nur einige Male durchgereist sei. Nachdem er aber die Sache so gut kenne, solle er nur ruhig forterzählen, zumal da er, wie ich vermuthete, auch einigen Antheil an den Ereignissen genommen hätte. Hiermit traf ich den Nagel auf den Kopf, denn der Secretär ward roth bis über die Ohren und ließ mich in Ruhe, obwohl er von Zeit zu Zeit verdächtige Blicke auf mich warf, die andeuteten: ‚Ich kenne Dich, weiß aber nicht, wo ich Deine Bekanntschaft gemacht habe.‘
Beim Anhalten in Borna steckte ich den jovialen Weinreisenden heraus, fragte den Secretär nach der besten Weinkneipe und lud ihn, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, zu einer Flasche Wein ein mit dem Bemerken: Da er für unsere Unterhaltung gesorgt, so solle er mich nun für einen guten Trunk sorgen lassen. Er nahm es endlich dankend an, und ich folgte dem Manne in dem Locale bis auf das geheimste Plätzchen. Schließlich kam der Postwagen; mein Gelbvogel fuhr nach Leipzig und ich nach Altenburg, wo ich im Hause des Dr. Rittler abstieg, das auch den Dr. Munde aus Freiberg längere Zeit verpflegt hatte.
Wie mir in Dresden fünfzig Thaler zugeflossen waren, so wurde auch hier meine Börse mit derselben Summe aufgefrischt. Ich machte zugleich hier die Bekanntschaft mehrerer revolutionärer Größen und nahm für die Weiterreise einige Veränderungen in meinem Anzuge vor. Ueber Nacht wurde ich in den wohlehrbaren Tuchmacher und Bürger Voigt aus Crimmitzschau umgewandelt; die Hände wurden in der Küpe blau gefärbt und dem Gesichte, außer frischem Carmin, hie und da ein bläulicher Schein verliehen. War auch der ursprüngliche Träger des Passes zehn Jahr älter und ich mehr als mittelgroß, so glich mein leidendes Gesicht und der größere Menschenschlag im Norden, dem ich nun zureiste, Alles,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_447.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)