Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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wie ich glaubte, wieder aus. Ein Fuhrwerk brachte mich nach Halle, und der Kutscher erklärte mir, daß er schon manchen Flüchtling gefahren, aber noch keinen so ruhig gefunden hätte. Diese Aeußerung bestärkte mich in der Ansicht, daß man die Gefahr nicht suchen, aber auch nicht furchtsam vermeiden, sondern keck dareinschauen müsse.
Von Halle brachte mich die Eisenbahn in der Nacht nach Magdeburg. Im Hôtel waren die Officiere eben von der Abendtafel aufgestanden, als ich erschien und um Souper und Nachtquartier ansprach. Letzteres erhielt ich nur nach einiger Ueberredung, da erst der Kellner und dann der herbeigerufene Wirth durchaus meinen Paß über Nacht auf der Polizei niederlegen wollten. Endlich überwand sie doch der Grund, daß ich am nächsten Morgen vier Uhr mit dem Zuge nach Braunschweig reisen müsse. Nachdem ich Alles vorausbezahlt, brachte mich der Hausknecht früh nach dem Bahnhofe, und Mittags langte ich wohlbehalten in Braunschweig an.
Das war ein heißer Platz. Gensd’armen umringten von allen Seiten die Wagen und fragten nach den Pässen. Ich lehnte mich über die Brüstung meines Fahrzeugs und rief den hinter mir Sitzenden mit Stentorstimme zu: ‚Ihre Pässe, meine Herren!‘ Dabei reichte ich die empfangenen den Gensd’armen dar, mich aber, der ich mit Hin- und Hergeben beschäftigt war, fragte nicht Ein Haltefest nach meinen Papieren. Diesem Kreuzfeuer entronnen, rief ich den ersten besten Polizeier an, erkundigte mich, wann der Zug nach Hannover abgehe, that sehr eilig, da ich in den beiden Haltestunden Geschäfte in der Stadt abmachen und dann von Hannover zurück zur Braunschweiger Messe kommen wolle. Der gute Mann requirirte mir einen Wagen, versprach mir ein Billet zu besorgen, nahm meine Reisetasche, und ich instruirte den Kutscher, mich zu rechter Zeit aus dem Hôtel wieder abzuholen. Hier mußte ich mir ein Paar Filzschuhe kaufen, da ich es vor Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Als ich wieder in den Bahnhof einfuhr, öffnete mir der freundliche Mann mit meiner Reisetasche den Wagenschlag, händigte mir gegen eine in seinen Augen große Vergütung Billet und Tasche ein, zog noch tiefer die Kappe, schob alle Anderen bei Seite und mich in den Wagen hinein. Ich wünschte im Herzen, daß alle sächsischen Polizeier sich an ihm ein Beispiel nehmen möchten. In Hannover kam ich zum Abend an und fuhr mit dem Morgenzuge nach Köln ab, wo ich in den ‚Drei Königen‘ übernachtete. Den nächsten Tag überschritt ich bei Verviers die belgische Grenze und athmete leichter. Abends langte ich in Antwerpen an, wo Thauwetter war, und erreichte, mit meinen befilzschuhten Füßen durch die Nässe watend, ein Hôtel am Walpurgisplatze.
Nach einigen Tagen ließ ich mir auf der Polizei einen richtigen Paß geben und fühlte mich nun nach Umständen vollkommen sicher. Dennoch sollte ich noch nicht ganz Ruhe haben. Durch irgend einen Spion hatte das Amt in Meißen erfahren, daß ich unter dem Namen Voigt in Antwerpen lebe, und flugs langte ein Schreiben auf der Polizei an, das die Auslieferung des wegen Hochverraths verurtheilten Lehrers Thürmer, der unter falschem Namen lebe, verlangte. War nun auch der Pseudoname abgelegt, und wurde Niemand wegen Hochverraths ausgeliefert, so machte mir das unsinnige Verlangen doch einige Umstände. Denn als ich eines Abends im Januar 1851 in’s Hôtel zurückkam, fand ich das Haus im Halbcirkel mit einer Compagnie Rothhosen umstellt, die sich meiner Person bemächtigen sollten. Der Brigadier erklärte mich zu seinem Gefangenen und drohte mit den Pompiers, im Fall ich Widerstand versuchen sollte. Verlegen folgte ich ihm; im Gefängniß des Stadthauses eröffnete er mir die Bewandniß der Sache, verlangte meinen Paß, den er in Ordnung fand, und konnte nur nicht über das Wort ‚Hochverrath‘ wegkommen, in dem er die Bedeutung von Diebstahl oder Mord suchte, was freilich meine Auslieferung bedingen würde. Beruhigt schlief ich, als meine Freunde bei mir mit Wein, Essen, Cigarren und Kaffee eintraten und fast die ganze Nacht bei mir zubrachten. Andere gingen am nächsten Morgen zu einem Advocaten, um Beschwerde über Verletzung der belgischen Verfassung zu führen.
Am nächsten Nachmittage wurde ich zum Bürgermeister gerufen und erzählte demselben (halb deutsch, drei Achtel englisch und ein Achtel französisch), daß ich zwar in Deutschland unter verändertem Namen gereist, hier aber, ohne etwas zu verheimlichen, um einen Paß auf Zeit eingekommen sei, und Hochverrath in Sachsen gelte hier nicht als Verbrechen. Mit Hülfe des Wörterbuches verständigte er sich über die Bedeutung des fatalen Wortes und erklärte mir dann, daß ich frei sei und hier bleiben könne, so lange ich mich politisch nicht anrüchig mache. Im Herbst 1851 ging ich unbehelligt auf dem ‚Ashburton‘ nach den Vereinigten Staaten, um mir eine neue Existenz zu gründen. Wie mir das so glücklich gelungen ist, haben die Leser bereits im Eingang erfahren. Demungeachtet hänge ich noch mit ganzem Herzen an meinem deutschen Vaterlande und habe die Siege und die Einigung desselben mit Jubel und tiefer Rührung begrüßt.“
Der Engländer ist ein raffinirter Bequemlichkeitskünstler. In allen Aeußerungen und Beziehungen des Lebens geht sein Hauptstreben nach Case und Comfort – zwei schwer übersetzbaren Begriffen, denn unser „Leichtigkeit“, „Behagen“, „Bequemlichkeit“ drücken sie nicht vollkommen aus. Deshalb macht er sich auch seine mündliche und schriftliche Rede gern so leicht und bequem wie möglich, indem er längere Worte abkürzt oder auch durch ganz andere kürzere ersetzt und für eine Menge von Bezeichnungen sich bloßer Buchstaben oder Chiffren bedient, welche rasch das allgemeine Bürgerrecht erlangen. So stutzt er sich seine Vornamen mundrechter zu; Mary verwandelt er in Poll, Robert in Bob, Edward in Ned etc. Der Omnibus ist aller Welt einfach der Bus; ein kurzes M. P. hinter dem Namen bekundet den Träger desselben als Erwählten der Nation, als Mitglied des Parlamentes – Member of Parliament –; die O. und P. kennt Jedermann als die zwischen England und Ostindien gehenden Postdampfer, die Schiffe der Peninsular and Oriental Company, und Niemand ist, dem sich bei der Chiffre T. S. nicht das Bild eines Zeit und Raum aufhebenden Weltverkehres entrollte.
Dieses T. S. schläft niemals, ja schließt nicht einmal das Auge zu noch so kurzem Schlummer. T. S. ist ewig neugierig und ewig bestrebt, seine Neuigkeiten mitzutheilen. Die ärgste Klatschbase in der klatschsüchtigsten kleinen Stadt vermag während ihres ganzen Lebens auch nicht ein Tausendstel der Gerüchte auszustreuen, die T. S. im Laufe einer Stunde in die Welt hinaussendet. Und wie bunt und mannigfaltig ist der Charakter dieser Nachrichten! Die Kunde von den Pariser Mordbrennereien, die Geburt eines neuen Enkels der Königin Victoria, die letzte Rede Bright’s in Birmingham – alle diese Mittheilungen und noch hundert andere laufen in derselben Minute in T. S. ein und machen sich den Vorrang streitig. T. S. hat den Finger am Pulse der Goldbörse von New-York und erzählt von jedem seiner einzelnen Schläge; T. S. vibrirt mit dem Steigen und Fallen des Indigomarktes, dessen Waaren die fernen Felder Ostindiens senden, – mit Einem Worte, T. S. streckt seine Zweige nach allen Richtungen hinaus. Es läuft dahin tief unter dem Pflaster der City, bleibt uns zur Seite auf der Landstraße, säumt die schlüpfrige Wand des Eisenbahntunnels, schwingt sich von Rauchfang zu Rauchfang über den Dächern unserer Häuser und liegt auf dem Grunde des Oceans mitten unter Schiffstrümmern und Korallenriffen, unter verlorenen Schätzen und bleichenden Menschengebeinen. Daß T. S. dem Privatmann auch zu Diensten sein muß, versteht sich von selbst. Durch T. S. Vermittelung erbittet sich der Herzog auf seinem Schlosse hoch im Norden von Schottland das sofortige Erscheinen des berühmten Londoner Arztes, wenn Mylady plötzlich erkrankt ist, und T. S. wieder ist es, das die Trauerkunde vom Ableben Seiner Gnaden des Marquis im fernen Cornwallis in die Hauptstadt trägt.
In allen diesen und tausend anderen Fällen wird T. S. in Requisition gesetzt, denn – der Leser hat es schon errathen – T. S. ist die landübliche Abkürzung von Telegraph Street, der großen Centralstation des englischen Staatstelegraphenwesens.
Telegraph Street ist kaum eine Straße zu nennen, nur eine Sackgasse, die in einen sehr engen Hof mündet. Unmittelbar an
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_448.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)