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Seite:Die Gartenlaube (1872) 610.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

bohrte sich zwischen die Flechten des Bodens, dann hob sie das tiefe Auge und richtete es mit wunderbarem, wie aus weiter Ferne zurückkehrendem Ausdruck auf Eckhardt. „Vergeben Sie mir!“ sagte sie leise, indem sie ihm die Hand entgegenbot. „Innerlich einwilligen, ist ja wohl die große Lehre des Lebens – ich glaube, wir Beide haben sie schon geübt. Vergessen ist schwer. Gott sei mit Ihnen!“

Eckhardt empfand den leisen Druck der Hand, die sich aus der seinigen löste; er verstand ihn als Abschied. Noch einmal blickte er in die unvergeßlichen Augen, dann verneigte er sich schweigend und schlug den Pfad abwärts ein.

In Sinnen tief verloren, folgte Eugenie langsam der übrigen, bereits auf dem Gipfel angelangten Gesellschaft. Daß sie allein erschien, setzte nur wenig in Verwunderung, da Eckhardt bereits, als er sich den Spaziergängern anschloß, geäußert hatte, der ganzen Garnison sei bedeutet, sich an den näheren Umkreis der Stadt zu binden. Als sie sich den im Säulentempel Versammelten anschloß, ruhten alle Blicke gefesselt auf der wundervollen Fernsicht, deren Linien der klare Sommerabend in voller Reinheit zeichnete. Das goldene Mainz schien so nahe gerückt, daß man glaubte, die Häuser zählen zu können, Darmstadts Thürme hoben sich schlank und deutlich vom blauen Himmel ab und die untergehende Sonne goß glühende Verklärung über das schöne Thal und Nassaus malerische Hauptstadt. Bläulich grüßten die Bergketten des Taunus und des Odenwaldes zum Rhein hernieder, der, ein Silberstreif, die gesegneten Fluren und Weingelände durchschnitt. Es war ein Bild lachenden Friedens; um so schneidender wirkte das Bewußtsein des Gegensatzes zwischen der heute noch so schönheitserfüllten Gegenwart und der in kurzen Wochen, vielleicht schon in Tagen hereindrohenden Zukunft. Mit dunkler Schwinge konnte sich Tod und Verwüstung nur zu bald über diese in Sonnenglanz gebadete Landschaft niedersenken – –! Walte Gott! – Die durch die Mittheilungen des jungen Officiers neuaufgeregte Empfindung der bedrückenden Weltlage breitete sich gleich einer schweren Wolke über die Stimmung Aller; selbst das jüngste, sorgloseste Mädchenherz schlug banger im Gedanken an den Bruder, den Verwandten, den Freund des Hauses, der mit der Waffe in der Hand vielleicht schon morgen, übermorgen ausziehen sollte, der Kugel des Feindes zu begegnen. Und bald wurden die Gedanken zu Worten! Unruhe, die keinen Genuß an beschaulicher Rast vergönnte, ergriff in steigendem Unbehagen den kleinen Kreis und veranlaßte schon nach einer Stunde zum Aufbruch.

Je näher die Heimkehrenden kamen, desto mehr fiel ihnen im Umkreise der Stadt eine eigenthümlich wogende Bewegung auf. Ein Trupp Studenten zog des Weges, ihre glühenden Gesichter voll Erregung; im Chorgesang ließen die frischen Stimmen begeistert jene Worte ertönen, die sich nach wenigen Wochen als voller Klang der Leier überall dem deutschen Schwert gesellen sollten: „Lieb’ Vaterland, kannst ruhig sein!“ In der Stadt flutheten Menschen jedes Alters und Standes durch die Straßen. Die Worte des Telegramms zu unterscheiden, welches an den Eckplätzen angeschlagen und von dichtgedrängten Massen umgeben war, blieb den Frauen unmöglich, doch drangen aus den lebhaft sprechenden Gruppen, an denen ihr Weg sie wieder und wieder vorüberführte, einzelne schlagende Worte an ihre Ohren. Hier mit knirschendem Laut: „brusquez le roi!“ Dort mit gewichtigem Klang: „Das kostet ihnen Elsaß!“

Mit eiligeren Schritten drängten die Frauen vorwärts, an den gefüllten Colonnaden vorüber, durch die ungewöhnlich belebte Platanenallee, dem Curhausplatze zu, wo der Staatsrath seine Tochter in Empfang zu nehmen versprochen. Dort schien die steigende Woge der Bewegung auf ihren Gipfelpunkt gelangt zu sein; Säle, Veranda und Park waren voll ruheloser Gruppen, welche sich beständig lösten und immer von Neuem wieder bildeten, bald den Träger einer Uniform, bald den Vorleser eines Druckblattes, eines Briefes zum Mittelpunkte wählend. Aus einer dieser Gruppen trat die hohe Gestalt Wallmoden’s den Frauen entgegen und begrüßte sie mit den Worten: „Das Heer ist mobil!“




Die Saat geht auf.


Der Staatsrath hatte mit seiner Tochter die stets vollständig eingerichtete Stadtwohnung bezogen, um dem Mittelpunkte der vielfältigen Bewegung näher zu sein, als dies in der Villa geboten war. Das entfesselte patriotische Leben fluthete höher und höher. Seit der Bürgermeister auf offenem Markte, unter freiem Himmelsgewölbe die Einmüthigkeit aller Mitbürger für die deutsche Sache angerufen und seine Worte bei den um ihn geschaarten Tausenden freudigen Widerhall gefunden, hatte sich ein Bedürfniß opferwilliger Thätigkeit jedes Einzelnen bemächtigt. Vereine bildeten sich; in den Familien, wie an den Sammelpunkten öffentlichen Wirkens pulsirte thatkräftiges Leben und Treiben. Statt der entwichenen Curgäste und Fremden, aus deren Zahl zumeist nur solche zurückgeblieben waren, die sich aus Gesundheits- oder Privatrücksichten für mehrmonatliches Verweilen seßhaft eingerichtet, füllten sich Straßen und Plätze mit der Menge der Einberufenen. Alles drängte sich zur Fahne, Niemand blieb zurück, bei Alt und Jung derselbe Sturm der Begeisterung, dieselbe brennende Empfindung für die frevelhaft angetastete Ehre des Königs und der Nation, derselbe Schwur, nicht zu ruhen und zu rasten, bis Genugthuung gewonnen sei! Aus weiter Ferne flog die deutsche Jugend zum Dienste des Vaterlandes herbei. Hunderte von Familienvätern, die ungerufen erschienen, um die gewohnte Hand begierig nach der Waffe auszustrecken, mußten auf spätere Zeit verwiesen werden, da die Schaaren in unglaublich kurzer Frist vollzählig bereit standen. Mit erschüttertem Herzen, aber klarem Blick drückte der Mann Weib und Kind an die Brust, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, und brach auch die Kraft der Mütter in Thränen, so begehrte selbst die Wittwe nicht, den Sohn zu halten – willig ließ das zuckende Herz den Liebling ziehen.

Das auf Kriegsstärke gebrachte achtzigste Regiment zog in der ersten Morgenfrühe von dannen. Als die Bataillone mit klingendem Spiel durch die Stadt nach dem Bahnhofe marschirten, lehnte Eugenie an der Seite ihres Vaters am Fenster. Die ganze Straße entlang waren Fenster und Thüren besetzt, weiße Tücher flatterten, hier und dort fiel aus zitternder Hand eine Blüthe, ein Zweig nieder, nachdem ein letzter, verhängnißvoller Gruß getauscht worden. Manche jugendliche Gestalt beugte sich beim Nahen der Truppen weit über die Brüstung und verschwand, vom geheimen Schmerz überwältigt, vom Fenster, ehe noch der Eine, dem ein Abschiedswinken gelten sollte, nahe genug kam, es zu empfangen. Manches todtblasse Frauengesicht blickte thränenlos und starr dem im Dufte des Morgens verschwindenden Sohne, dem Gatten nach, manche kalte Hand preßte das heiße, gequälte Herz. Auf den Straßen aber, zur Rechten und Linken der scheidenden Truppen, drängte sich Kopf an Kopf – die Heimbleibenden, die Verlassenen gaben ihnen das Geleite! Harmonisch stimmte der Jubelruf, das Hurrah der Männer zu den Cymbeln und Pauken an der Spitze des Zuges, und doch übertönte der muthige Kampfes- und Siegesklang das trostlose Schluchzen der Frauen und Kinder nicht, die neben dem fortziehenden Schützer und Ernährer liefen, aus strömenden Augen immer wieder nach der kräftigen Gestalt blickend, die heute statt der Pflugschaar, des Handwerksgeräths Wehr und Waffen führte – nach dem treuen Auge, das umsonst mit festem Mannesmuth die den Verlassenen gegenüber immer neuaufsteigende Zähre zerdrückte. – Das heißt Scheiden!

Eugeniens feuchter Blick suchte und fand Eckhardt um so leichter, da er als Adjutant zur Seite des Regiments-Commandeurs ritt. Dem Hause nahe gelangt, hob er den edlen, ernsten Kopf und senkte langsam grüßend den Degen. Der Staatsrath bog sich über die Brüstung und rief kräftig hinab: „Gott befohlen!“ Eugenie neigte das Haupt, ihre Wange wurde von unaufhaltsamen Thränen überströmt; während Rudolph’s Auge noch auf sie geheftet war, winkte sie mit der Hand und trat dann, ihrer Bewegung nicht mehr mächtig, vom Fenster zurück.

Trostlos schluchzend begrub sie ihr Gesicht in den Kissen des Sophas. Ihr war, als ging ein nie zu heilender Riß durch ihre Seele, die dunkle Pforte des Todes that sich vor ihrem Geiste auf, schauernd betrat sie die Brücke zur Ewigkeit! Wer würde heimkehren von Allen, die von dannen zogen, hier – und anderwärts! Sie erbebte – in diesem Augenblick heftete sich ihr die schwere Frage nur an zwei Gestalten! Der Eine hatte sie versöhnt verlassen – der Andere –?

Ihr Herz drohte still zu stehen.

Der letzte Sang und Klang verhallte; gleich Wogen, die nach dem Sturme in immer schwächerem Anprall gegen den Strand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_610.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)
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