Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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sondern wo man auch die Aufgabe seines Gepäckes besorgt bekommen kann. Ein Hôtel ersten Ranges hat selbstverständlich einen Billetschalter. Das persönliche Gepäck des Reisenden wird nie gewogen; man nimmt an, daß Niemand über zweihundert Pfund mit sich führt, und erachtet es demnach nicht der Mühe werth, es wiegen oder gar die Ueberfracht bezahlen zu lassen. Eine Kupfermarke dem betreffenden Gepäckstücke angehängt, die correspondirende dem Reisenden übergeben, das ist die ganze Procedur des Gepäckaufgebens, welche bei uns in Europa so zeitraubend und mit Umständlichkeit verknüpft ist. Selbstverständlich ist von Trinkgeldgeben und Trinkgeldnehmen in den Vereinigten Staaten nicht die Rede; der Amerikaner ist dazu viel zu stolz; der niedrigste Arbeiter betrachtet sich in dieser Beziehung als Gentleman und stellt das Trinkgeldnehmen mit Bettelei auf gleiche Stufe. Ebenso leicht und bequem wie das Billeterlangen und Gepäckaufgeben in den Vereinigten Staaten dem Reisenden gemacht wird, ebenso leicht ist auch das Gepäckherausbekommen. Sobald der Zug sich einer größeren Stadt nähert, durchschreitet ein Mann die Waggons und fragt den Reisenden, nach welchem Hôtel oder nach welchem Hause er sein Gepäck hingeschafft haben wolle, und gegen Auswechselung der Gepäcksmarke für einen Schein, sowie gegen Zahlung von fünfzig Cents (zwei Mark) erhält der Reisende nicht nur Fahrgelegenheit vom Stationsgebäude nach seinem Absteigequartiere, sondern findet auch sein Gepäck dort unversehrt vor.
Auf längeren Strecken, z. B. auf der Pacificbahn, findet man auch die Hôtel-cars dem Zuge angehängt, in welchen während der Fahrt gefrühstückt, Mittag gegessen und gevespert werden kann. Der Preis für ein Mahl variirt zwischen einem Dollar und einem Dollar und fünfzig Cents. Sonst wird zu den drei Zeiten auf irgend einer Station gehalten und gespeist, und für eine solche Mahlzeit gilt der Durchschnittspreis von fünfundsiebenzig Cents (drei Mark). Alle übrigen Halte sind äußerst kurz, gerade lang genug, um die ein- und aussteigenden Passagiere zu wechseln.
Alles, was wir bis jetzt aufgeführt haben, läßt uns die Einrichtungen des Eisenbahnwesens in den Vereinigten Staaten im freundlichsten Lichte erscheinen, aber um gerecht zu sein, wollen wir nicht unterlassen, auch auf die Schattenseiten aufmerksam zu machen.
Der Mangel an Beamten macht sich in erster Linie für den fremden Reisenden auf’s Unangenehmste fühlbar. Es ist wahr, in den Vereinigten Staaten reisen so wenige Fremde, daß die verschiedenen Directionen auf „außeramerikanisches Publicum“ überhaupt gar nicht nöthig haben, Rücksicht zu nehmen, aber wie unangenehm ist es, wenn man sich von der Straße aus, nach seinem Zuge, nach seinem Waggon mühsam den Weg suchen muß! Fragen kann man nicht; denn Niemand ist da, der einem antworten würde. Man setzt sich in den Waggon; man fragt endlich die Mitreisenden: „Geht dieser Zug oder dieser Waggon nach der und der Stadt?“, oft ohne zu erfahren, ob man wirklich in den richtigen Car gerathen ist. Endlich geht der Zug ohne das in Europa übliche Pfeifen ab, ohne daß Jemand abgerufen hätte, aber pünktlich auf den Glockenschlag. Zwanzig bis dreißig Personen springen noch während der Fahrt in den Waggon, während wenigstens ebenso viele schon seit einer Stunde oder noch länger vor der Abfahrt im Waggon saßen.
Warum sollten sie auch nicht, denn im Waggon wartet es sich besser und sicherer, als in den Warteschuppen. Die Stationsgebäude in den Vereinigten Staaten, oder, wie man sie nennt, Depôts, sind nämlich die elendesten Scheunen, die man sich nur denken kann, selbst die in den größten Städten. In St. Louis oder Chicago z. B. brennen Abends in der Abfahrtshalle vielleicht zehn oder zwölf Gasflammen; in diesen Städten kann man wenigstens von Abfahrtshallen reden; in den kleineren Städten muß man „Schuppen“ sagen.
Der berühmte Centralbahnhof in New-York ist gegen unsere Lehrter, Potsdamer und Ostbahnhöfe in Berlin nichts als ein Güterschuppen. Granit- und Marmormonolithen, elegant eingerichtete Wartesäle, reich ausgestattete Restaurants, prächtige Empfangshallen und Abends taghelle Beleuchtung sucht man im New-Yorker Centralbahnhofe, wie überall anderswo in Amerika, vergebens. Während in Deutschland, wie überhaupt in Europa, die eigentlichen Bahnhofskörper durch oft tausende von Gasflammen erleuchtet sind, ist eine solche Lichtverschwendung in den Vereinigten Staaten vollkommen unbekannt; höchstens zeigt eine einsame Petroleumflamme den Ort, wo eine Weiche steht.
In den kleineren Städten sind die Stationen aber wirkliche Viehställe; von menschenwürdigen Gebäuden, von Gasbeleuchtung, selbst wenn in der Stadt solche wäre, ist keine Rede.
Wenn ich in meinem früheren Aufsatze über deutsche Eisenbahnen die Beleuchtung der amerikanischen Waggons als musterhaft hinstellte, so muß ich das jetzt, nachdem ich sie aus eigener Anschauung kennen gelernt, widerrufen. In den Vereinigten Staaten ist die Beleuchtung die elendeste, die man sich denken kann; als Norm gilt, daß in einem circa fünfzig Fuß langen Waggon drei flimmernde Kerzen, oder auch Petroleumlampen brennen, und selbst die Pulman-Palace-cars sind nicht viel besser beleuchtet.[1] Wie vortheilhaft erscheinen einem da die Waggons der preußischen Staatsbahnen nach dem Osten zu, welche seit 1874 durch Gas erleuchtet werden und wirklich so viel Licht haben, daß man Abends lesen kann.
Da auf den Vereinigten Staaten-Bahnen keine Stationsgebäude vorhanden sind – denn wir Europäer können diesen Namen auf die hölzernen Buden nicht anwenden –, so findet man auch fast nirgends den Namen eines Ortes oder einer Stadt angeschrieben, und da niemals abgerufen wird, oder höchstens in selbst für Amerikaner unverständlichem arabisch-gurgelndem Tone, so weiß Niemand, wo er sich befindet. Viele Bahnen haben allerdings die löbliche Einrichtung, daß sie beim Besteigen des Waggons dem Reisenden kleine Billets überreichen, worauf alle zu durchlaufenden Stationen verzeichnet sind, aber dann muß man auch eben immer mit dem Billet in der Hand dasitzen, um die Namen der Oerter zu erfahren. Uebermannt einen der Schlaf, fährt man unbemerkt bei verschiedenen Stationen vorüber, dann ist’s so wie so aus mit der Orientirung.
Es ist übrigens dafür gesorgt, daß Niemand einschläft, denn die Sitze in den Waggons sind so eng, die Lehnen so niedrig und so hart, daß an Schlafen nicht zu denken ist; wohin sollte man auch sein müdes Haupt legen, wohin seine Füße? Oft zwar kann man letztere auf dem vorstehenden Sitz, falls man ihn zurückklappen kann, ruhen lassen, meist aber sind mit großer Hartherzigkeit die Sitze festgeschlossen. Bei langen Tagfahrten ist dies zum Verzweifeln, und selbst die Saloon-cars gewähren keine Abhülfe; denn die Lehnsessel haben keine Kopflehne. Man fährt also ohne Widerrede in den Vereinigten Staaten auf langen Strecken viel unbequemer; dazu kommt noch, daß meistens die Cars ganz voll von Reisenden sind, sodaß man, geradezu eingeschachtelt, während der ganzen Fahrt seine einmal eingenommene Position innebehalten muß. „Aber wir können doch während der Fahrt auf und ab gehen,“ wirft mir ein Amerikaner ein. „Thut’s doch!“ erwidere ich, „wie lange wird dieses Vergnügen dauern, während der Zug in Bewegung ist, und wenn zwei, drei oder gar mehrere Personen diese Neigung verspürten?!“ – Selbstverständlich fährt man sehr häufig über sein Ziel hinaus, denn wer sagt Einem, daß man angekommen ist? Dem Schreiber dieses ist es passirt, und mehrere Male hat er gesehen, daß es Anderen ebenso erging. Endlich lehrt die Erfahrung, genau aufzupassen. Beschweren kann man sich nicht darüber, daß man nicht avisirt worden sei; denn Beschwerdebücher giebt es nicht.
Ein großer Uebelstand in den Vereinigten Staaten ist der, daß die arme und weniger bemittelte Volksclasse ganz vom Reisen mit der Eisenbahn ausgeschlossen ist, eben weil das Reisen sich als zu theuer herausstellt. Die für die Armen so wohlfeil eingerichtete vierte Classe, oder auch nur die dritte Classe, fehlt in Amerika. Denn die Auswandererzüge, welche diese Reisenden billiger befördern, können die vierte und dritte Classe nicht ersetzen, da sie eben unregelmäßig fahren und nur abgehen, wenn eine hinlängliche Anzahl von Auswanderern vorhanden ist. Man reist in den Vereinigten Staaten durchschnittlich zum halben Preise wie in Europa mit der zweiten Classe; nimmt man bei Tage Saloon-Car, so zahlt man weniger zu, als bei uns die Differenz zwischen erster und zweiter Classe beträgt, und nimmt man Nachts Sleeping-Car, so würde der zu zahlende Zuschlag etwa einem Billete erster Classe in Europa entsprechen. Wer gewohnt
- ↑ Auch die Straßenbeleuchtung selbst der größten Städte, z. B. New-Yorks oder Philadelphias, ist trauriger, als die von Städten dritten Ranges in Europa.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_216.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)