Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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auf eine Regelung jener Lebensthätigkeiten vermittelst des aus dem Gehirne entspringenden, umherschweifenden Nerven (Vagusbündel) beschränkt. Dieser Vagabundus unter den Nerven spielt eine Art Oberaufseher im Körper; er treibt an, wo seinem Gefühle nach nicht genug gethan wird, und mäßigt, wo man zu viel thut. Während er nun in der Erwartung oder Furcht möglicher Weise direct den Herzschlag beschleunigt oder verlangsamt, verliert, wie man bemerkt zu haben glaubt, der Herr Oberaufseher in der Verwirrung, welche unsere emsige Beschäftigung mit den Gedanken Anderer im Oberstübchen anrichtet, gleichsam den Kopf und vernachlässigt seine Pflicht, ja verführt obendrein die Nerven, welche die haarförmigen Blutgefäße der Haut (Capillaren) im Zaume halten, seinem Beispiele zu folgen. Das Herz pocht deshalb, so lange eben die Verlegenheit andauert, ungezügelt darauf los und füllt die durch nichts mehr beengten Haargefäße der Wangen überreichlich mit Blut; die Lungen beeilen sich, in gleichen Schritt zu kommen, kurz, der Körper benutzt den Augenblick, wo der Geist „außerm Häuschen“ ist, zu einer kleinen Revolte.
Auf diese interessanten Vorgänge ist ein merkwürdiges Licht geworfen worden durch das Studium der Wirkungen des Amylnitrits, eines neuen, bei Migräne und anderen Nervenleiden angewendeten Arzneimittels. Es ist dies eine schwachgelbliche, durchdringend obstartig riechende Flüssigkeit, welche, beiläufig bemerkt, aus dem Kartoffelfuselöle, dem Abfalle der Spiritusbrennereien, durch Behandlung mit Salpetersäure erzeugt wird. Schon im Jahre 1859 hatte ein Selbstbeobachter (Guthrie) die Bemerkung gemacht, daß das Einathmen sehr geringer Mengen dieser Aetherart das Antlitz in Purpurgluth taucht und die Zahl der Herzschläge verdoppelt. Darwin wies sodann in seinem Buche über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (1872) auf den sonderbaren Umstand hin, daß dieser Blutrausch mancherlei Aehnlichkeit mit der natürlichen Beschämung bietet, daß sich unter Anderm die künstliche Röthe nur ausnahmsweise über die Grenzen der natürlichen ausbreite etc. Schließlich hat Dr. Filehne (1874) durch eine Reihe von Untersuchungen nachgewiesen, daß der durch Amylnitrit erzeugte Zustand sich körperlich gar nicht von einer rechtschaffenen Scham unterscheidet. Die Purpurgluth der Büste, das glänzende Auge, die geistige Verwirrung, das hastige Athmen und starke Herzklopfen, Alles stellt sich ein. Sogar der halberloschene Herzschlag eines übermäßig Chloroformirten läßt sich, wie ein Londoner Arzt kürzlich entdeckt hat, durch das Einathmen von Amylnitrit neu beleben, sodaß dasselbe als wichtiges Gegenmittel bei Chloroformvergiftungen erkannt worden ist.
Es ist gewiß eine höchst überraschende Erscheinung, daß das Einathmen eines aromatischen Dunstes sämmtliche Aeußerungen einer anscheinend sehr zusammengesetzten Gemüthsbewegung hervorrufen kann. Und dieser Einwirkung vermag sich nicht einmal derjenige zu entziehen, welcher sich das Schämen längst gänzlich abgewöhnt hat; drei Tropfen eines Parfüms, auf einem Taschentuche unter die Nase gehalten, bringen nach wenigen Secunden den abgebrühtesten Schuft, den abgehärtetsten Sünder und hartgesottenen Gründer dahin, zu erröthen und in Verwirrung zu gerathen, wie ein sechszehnjähriger Backfisch. Vielleicht läßt sich von diesem Mittel auf der Bühne Nutzen ziehen, wo mitunter Jemand erröthen soll und es doch ebenso wenig vermag, wie Immermann’s „Münchhausen“, der stets ergrünte, oder wie jene Unglücklichen Jean Paul’s, die nur eine einzige Thräne zum Besten geben sollten, um lachende Erben zu werden. Der angehende Heirathscandidat aber, der bisher so großen Werth auf das züchtige Erröthen seiner Auserwählten legte, muß künftig, wenn er von einem purpurnen Antlitze begrüßt wird, oder ein solches hinter dem Spitzentaschentuche verschwinden sieht, aufmerken, ob sich nicht vielleicht gleichzeitig ein Duft nach Bergamottbirnen im Zimmer verbreitet.
Das Erröthen schamloser oder blödsinniger Menschen, die sonst nie erröthen, unter dem Einflusse des Amylnitrits mußte darauf führen, es auch bei Thieren zu versuchen und in der That, sie errötheten wie ein Mensch. Hier konnte nun auch festgestellt werden, daß dabei nicht etwa die genannten gefäßbewegenden Nerven vorübergehend gelähmt werden, sondern daß die Arbeitseinstellung im Bureau derselben, im Gehirne, stattfindet. Man fand also, daß, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Mechanik oder Claviatur des Vorganges schon unter den höheren Thieren gegeben ist, und daß es hier offenbar nur an dem eingeschulten Spieler, einer feinfühlig entwickelten Psyche fehlt, um das verführerische Farbenspiel anzustimmen. Jedenfalls muß die Verbindung des bewegenden Theiles der gefäßregulirenden Nerven mit dem Denkorgane eine sehr innige sein, da sie so überaus leicht, und selbst bei verhältnißmäßig rohen Völkern in Mitleidenschaft gezogen werden. Es wäre eine anziehende Aufgabe, sich auszumalen, wie diese zarte Rücksicht auf die Meinung der Andern, von dem Geselligkeitstriebe geweckt, allmählich aus schwachen Anfängen durch immerwährende Wiederholung und Steigerung endlich zu jener hochgradigen Sensibilität entwickelt worden ist, deren auf- und abwogendes Spiel unserem geselligen Verkehre beständig neue Reize und Vorzüge zuführt.
Federzeichnungen aus Oesterreich.
Der Wiener, der Berlin besucht hat, ist bei seiner Heimkehr des Lobes voll über die Kaiserresidenz an der „schönen schwarzen Spree“. Er erkennt gern alle Vorzüge der deutschen Reichshauptstadt an, aber Eins hat ihm sicher gefehlt: das Kaffeehaus. Bis vor wenigen Jahren hatte Berlin gar kein Kaffeehaus; jetzt hat es eins, und noch dazu ein nach Wiener Muster eingerichtetes, aber eins ist, insbesondere für eine Stadt von einer Million Einwohnern, keins, und der Wiener wird in Berlin nach wie vor sein liebgewordenes Asyl für seine Mußestunden schwer vermissen. Mit einem Anflug moralischer Hoheit wird er die feierliche Erklärung abgeben, daß er sich am hellen Tage nicht in Wirthshäusern herumtreiben, noch weniger aber in Conditoreien mit Süßigkeiten anschlampen dürfe. Dein etwaiger Einwand, unschuldiger Leser, daß in Berlin in jedem Restaurant, sowie in jeder Conditorei auf Wunsch auch Kaffee servirt werde, würde mit einem mitleidigen Lächeln aufgenommen werden; als ob es überhaupt auf den Kaffee ankäme!
Wenn es nur das wäre! Um den Kaffee an sich handelt es sich gar nicht; es handelt sich um die ganze Atmosphäre, um das ganze Kaffeehaus mit Allem, was d’rum und d’ran ist. Diese Etablissements haben sich mit der Zeit durch die Macht der Gewohnheit zu einer allgemeinen Nothwendigkeit, und man kann sagen auch zu einer allgemeinen Calamität herausgebildet, welche der heiteren Donaustadt einen ganz besonderen Charakterzug aufgeprägt hat. Die edle Kunst des Müßiggangs findet in Wien eine ziemlich ausgiebige Pflege, und kein Mittel der Welt befördert ihn so sehr, wie das Wiener Kaffeehaus. Es ist durchaus nichts Ungewöhnliches, daß Männer der verschiedensten Berufszweige das Kaffeehaus täglich regelmäßig drei- bis viermal besuchen, und zwar zur Frühstückszeit, nach dem Mittagstisch, zum „Jausenkaffee“ (da es zu lange wäre, zwischen dem Mittagbrod und dem Nachtmahl nichts zu sich zu nehmen) und zuletzt endlich nach dem Abendbrod. Es ist sicher, daß die Kaffeehäuser eine ganz enorme Summe von Zeit und Geld absorbiren, die in privatem, wie in öffentlichem Interesse viel besser verwerthet werden könnte. Ein Gutes aber haben diese Asyle für den Müßiggang dennoch: der Massenverbrauch alkoholischer Getränke ist in Wien kein so gewaltiger, wie in anderen Weltstädten. Wie Alles in der Welt zwei Seiten hat, haben auch die Kaffeehäuser nicht nur ihre Annehmlichkeiten, sondern auch ihren Nutzen, sie hätten sonst, wie ich optimistisch genug bin zu glauben, nicht einen so ungeheuren Aufschwung nehmen können. Sie bestehen nämlich verhältnißmäßig noch nicht lange und sind erst mit dem aufblühenden Zeitungswesen in Wien so recht in Flor gekommen.
Das erste Kaffeehaus in Wien entstand unmittelbar nach der letzten Belagerung der Stadt durch die Türken. Die erste Concession zu einem solchen wurde einem Polen verliehen, der sich als Spion und Depeschenträger während der Belagerung
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_219.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)