Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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genug eine auf dem nervösen Zusammenhang beider Sehorgane beruhende Miterkrankung des andern Auges veranlaßt, welche nur durch die operative Entfernung des bereits zerstörten Schwesterorganes aufgehalten werden kann.
Nicht selten endlich kommt es auch vor, daß ein etwas größerer Körper mit einiger Gewalt den Augapfel trifft, aber wie eine matte Kugel an dessen Wänden abprallt. Eine solche Contusion ist oft von den schlimmsten Folgen begleitet; die durch sie verursachte plötzliche und heftige Erschütterung ist nämlich zuweilen im Stande, entweder Zerreißung von Blutgefäßen im Innern des Auges herbeizuführen, oder die nur ziemlich lose mit einander verbundenen, zwiebelartig angeordneten Häute des Auges von einander zu trennen und so partielle oder totale Blindheit zu bewirken, während äußerlich an dem verletzten Organ keine wesentliche Veränderung zu bemerken ist.
Fragen wir nun, unter welchen Verhältnissen diese Verletzungen vorkommen, so muß zwar eingeräumt werden, daß kein Stand, kein Alter, kein Geschlecht von der Gefahr einer Augenverletzung ganz frei ist, denn eine abgesprungene Nadelspitze, ein abgeschossenes Zündhütchen, ein mit Gewalt geführter Hammerschlag, ein zersplitterndes Glas und andere tägliche Vorkommnisse können dieselbe herbeiführen, die tägliche Erfahrung aber lehrt, daß die Beschädigung der Augen durch fremde Körper im Allgemeinen recht eigentlich von dem Berufe abhängt, daß sie, so zu sagen, eine Gewerbekrankheit ist, die namentlich die großen Classen der Metall- und Steinarbeiter betrifft.
Im Jahre 1868 unternahm ein besonders durch seine statistischen und hygienischen Arbeiten in fachwissenschaftlichen Kreisen bekannter deutscher Augenarzt, Professor Dr. Hermann Cohn in Breslau, das mühsame Werk, 1283 in größeren Etablissements beschäftigte Metallarbeiter hinsichtlich ihrer Augenverletzungen zu untersuchen. Wenn man den hierbei gefundenen Resultaten allgemeinere Gültigkeit beimessen kann, so leben allein in Preußen unter 144,501 Metallarbeitern (nach der Zählung von 1861) 2365, welche das Sehvermögen eines Auges in ihrem Berufe völlig eingebüßt haben.
Ueberhaupt aber stellte sich heraus, daß ziemlich die Hälfte aller Metallarbeiter (neunundvierzig Procent) schon Augenverletzungen erlitten hatten, welche ärztliche Hülfe nöthig machten, während auf jeden verletzten Arbeiter durchschnittlich zwei ärztlich behandelte Beschädigungen kamen, sodaß bei je hundert Arbeitern sechsundneunzig solche Verletzungen nachzuweisen waren.
Bei vierundvierzig vom Hundert trat in Folge der Verletzung Arbeitsunfähigkeit ein und dieselbe dauerte bei je einem Verletzten im Mittel siebenzehn Tage. Welcher Verlust an Arbeitskraft, wieviel Schmerz und Kummer, wieviel pecuniärer Nachtheil für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wieviel Verluste für Kranken- und Unterstützungscassen kleben an diesen Zahlen!
Und alle diese Eventualitäten ließen sich vermeiden, wenn jeder Arbeiter, sei es nun gezwungen, sei es freiwillig, bei seiner gefährlichen Beschäftigung eine Schutzbrille trüge. Professor Dr. Cohn hat das Verdienst, nach mannigfachen Reflexionen und Versuchen eine Vorrichtung angegeben zu haben, die allen Anforderungen, welche man an eine Schutzbrille gegen Verletzungen stellen kann, auf das Vollkommenste entspricht. Die unzerbrechlichen Lampencylinder brachten den genannten Forscher auf den Gedanken, den Glimmer als Material für seine Schutzbrille zu benutzen, deren Herstellung Herr Max Raphael in Breslau (Zimmerstraße Nr. 10) übernahm.
Die Glimmerbrillengläser sind gebogen und bedecken somit nicht blos das Auge nach vorn, sondern legen sich mit ihrer Messingeinfassung genau dem vordern knöchernen Augenhöhlenrande an, sodaß von keiner Seite ein Splitter an den Augapfel gelangen kann und dennoch die Wimpern das Glas nicht streifen. Das Gestell und die Bügel sind aus leichtem Messingdrahte, dem ohne Schwierigkeit jede für individuelle Verhältnisse nöthige Biegung gegeben werden kann. Die Glimmergläser sind einen halben Millimeter dick und aus der reinsten, durchsichtigsten Sorte des Minerals verfertigt, sodaß sie die Sehschärfe kaum beeinträchtigen und höchstens den grellen Schein des Feuers ein wenig zu mildern vermögen.
Als besondere Vortheile seiner Erfindung führt Dr. Cohn noch folgende Punkte an:
Die Glimmerbrillen können selbst durch starke Gewalt (z. B. wuchtige Hammerschläge) nicht zertrümmert werden, während Glasbrillen durch anspringende fremde Körper leicht zerschmettert werden und so durch ihre eigene Substanz Veranlassung zu höchst gefährlichen Verletzungen geben; sie sind fast noch einmal so leicht wie Glasbrillen, halten die Augen der Feuerarbeiter kühl, da Glimmer ein schlechter Wärmeleiter ist, und kosten endlich – last not least – etwa nur den fünften Theil gewöhnlicher Glasbrillen.
Obgleich nun alle diese Vortheile auch dem einfachsten Verstande klar zu Tage liegen und seiner Zeit fast alle öffentlichen Blätter (auch die „Gartenlaube“, wenn ich nicht irre) in ihren Spalten die segenverheißende Erfindung besprachen, ist leider zu constatiren, daß heute, nach Verlauf von sechs Jahren, nur ein äußerst kleiner Theil augenschutzbedürftiger deutscher Arbeiter mit der Glimmerbrille bewaffnet ist. Selbst hier in Breslau, dem Vaterlande des Propheten, giebt es meines Wissens keine einzige größere Werkstätte, in der jene Schutzvorrichtung allgemein eingeführt wäre. Im Gegentheil, täglich noch werden unsere Augenkliniken von rußigen Gestalten im blauen Kittel bevölkert, bei denen man schon beim Eintritt durch die Thür mit unfehlbarer Sicherheit einen fremden Körper im Auge feststellen kann und welche die Glimmerbrille nicht einmal dem Namen nach kennen. Die Bücher des Fabrikanten (und so weit mir bekannt, hat derselbe in ganz Deutschland keine Concurrenz) weisen nach, daß bis jetzt etwa achtzehntausend Brillen verkauft sind, von denen allein im Jahre 1868 etwa die Hälfte abgesetzt wurde, während von da ab Jahr für Jahr die Nachfrage stetig sich verminderte. Die Cohn’sche Erfindung scheint also der Vergessenheit anheim zu fallen.
Die Ursache dieser betrübenden Erscheinung mag einestheils in der Gleichgültigkeit der Arbeiter gegen eine zur Gewohnheit gewordene Gefahr beruhen, zum weitaus größern Theil aber gewiß in einem geschäftlichen Fehler, den Erfinder und Fabrikant gleich von vorn herein gemacht haben. Dieselben gingen nämlich von dem humanen Gedanken aus, daß eine Sache, die einen rein gesundheitlichen Zweck verfolgt und deren Wohlthaten gerade der ärmeren und arbeitenden Classe zu Gute kommen sollte, nicht Gegenstand der Speculation werden dürfe, daß die Brillen annähernd zum Herstellungspreis, ohne zwischenhändlerische Vertheuerung, in die Hände der Bedürftigen gelangen müssen. Deshalb wurde gleich von vornherein der äußerst geringe Preis von sechs Silbergroschen für eine einfache Glimmerbrille festgestellt und bei allen Publicationen bekannt gemacht. Nur bei sofortiger baarer Bezahlung und Entnahme von größeren Mengen sollte den Zwischenhändlern, also den sogenannten Optikern, ein Rabatt von fünfundzwanzig Procent gewährt werden.
Daher kam es, daß der Bezug der Schutzbrillen den Arbeitern Schwierigkeiten machte, an denen ihr guter Wille bald scheiterte; die Vereinigung Mehrerer zu demselben Zwecke, das Sammeln des Geldes, die Erkundigung nach der Adresse des Fabrikanten, das alles war ihnen viel zu umständlich. Deshalb erscheint mir als der einzige Weg, auf dem alle schutzbedürftigen Augen zu Glimmerbrillen gelangen können, der, daß die Arbeitgeber selbst die Sache in die Hand nehmen und die Schutzbrille in ihren Werkstätten obligatorisch einführen. Selbst wenn sie die Anschaffung auf eigene Kosten besorgen, werden sie bald den Vortheil, der auch ihnen dabei erwächst, aus dem Wegfalle eines großen Theiles der Kranken- und Unterstützungsgelder erkennen.
Aber hoffentlich bedarf es dieses Hinweises auf pecuniäre Vortheile nicht; ein einfacher Appell an die Humanität wird genügen, alle diejenigen für meinen Vorschlag zu interessiren, in deren Händen das Wohl der Arbeiter liegt. Auch dem Arbeiter ist ja das Auge nicht nur die erste Bedingung seines Berufes, sondern auch der unersetzliche Vermittler seiner schönsten und edelsten Genüsse, das fruchtbarste Werkzeug zu seiner geistigen und mithin auch sittlichen Ausbildung.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 265. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_265.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)