Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
|
Fast am äußersten Ende der Bretagne, nur etwa zehn Stunden vom Cap Finisterre entfernt, springt eine schmale Landzunge gegen den Ocean vor, von zahllosen Klippen und Felseninseln umgeben, deren harter Granit dem Anpralle der Wogen Widerstand leistet. Quer vor der Landzunge, die durch tiefe, den Fjorden Norwegens ähnliche Einschnitte von dem Festlande noch weiter geschieden wird, lagert sich eine zwei Stunden lange Insel, deren Gipfel von einem prachtvollen Leuchtthurme erster Classe gekrönt ist. Man könnte den bretonischen Namen „Ile de Batz“ mit „Stecken-Insel“ übersetzen – die langgestreckte Form derselben ist bezeichnend damit ausgedrückt.
Auf der nördlichen Spitze der Landzunge, im Umkreise einer kleinen Einbuchtung hat sich das Städtchen Roscoff angesiedelt, ein altberühmter Ort, aus dessen schwer anzusegelndem Hafen die Bretonen manchen Zug gegen ihre Erbfeinde, die Sachsen (so heißen noch heute in der Landessprache die Engländer), unternahmen, wo Maria Stuart landete, als sie von Schottland nach Frankreich herüber kam, und wo sie sogar (so seltsam gestalten sich historische Personen in der Ueberlieferung des Volkes) im Geruche der Heiligkeit steht, denn man zeigt noch heute den Eindruck, den ihr Fuß auf dem harten Granit zurückließ, als sie ihn aus dem Schiffe an das Land setzte. Ebbe und Fluth erreichen eine bedeutende Tiefe und Höhe; von Westen her drängt die Fluthwelle in den nach dieser Himmelsgegend hin weit geöffneten Canal, der die Insel Batz von dem Festlande trennt, sich stauend gegen Osten hin, wo eine zweite, kleinere Landzunge, die eine der heiligen Barbara geweihte Capelle trägt, den Canal fast zu schließen scheint. Die Schutzheilige der Artillerie hat nicht umsonst dort ihren Cultus; zu ihren Füßen dräuen die Kanonen des kleinen Forts von Bloscon, das den Eingang zu dem Hafen deckt, der bei Ebbe trocken liegt und bei der Fluth nur in Schlangenwindungen zwischen den Felsen hindurch erreichbar ist.
Diesen Ort habe ich mir seit zwei Jahren erkoren, um meine Sommer- und Herbstferien dort zuzubringen. Es ist eine kleine Stadt von etwa viertausend Einwohnern, die auf weitem Raume verstreut wohnen und nur in der Nähe des Hafens sich etwas mehr zusammendrängen. Keine Eisenbahn führt dorthin – Morlaix, die nächste Station an der Linie von Paris nach Brest, ist fünf Stunden entfernt, die Communication durch Fuhrwerke nur sehr mangelhaft eingerichtet. Das elegante Badepublicum bleibt fern; die Ortsfremden, welche sich in den Sommermonaten dort zusammenfinden, bestehen aus Naturforschern, Malern, Touristen und einigen wenigen Familien, welche Stille und einfaches, gemüthliches Leben suchen. Maler sind immer da; einige haben dort ihren ständigen Sommeraufenthalt, wie Boucquet, der berühmte Meister auf Fayence und Porcellan, oder Czermak, der bekannte Genre-Maler, der seine Stoffe meist aus jenen wilden Völkerschichten schöpft, die gegenwärtig tief in der Türkei aufeinander schlagen. Die wilde Schönheit des klippenreichen Strandes, das ewig wechselnde Spiel der Ebbe und Fluth, das weite Strecken Landes ab- und zudeckt, hat sie angelockt und festgehalten, und wenn sie nicht malen, vertreiben sie sich die Zeit mit Fischen und Segeln. Zu ihnen gesellen sich jüngere Kräfte, die reichen Stoff zu Studien finden, mag sie nun das Volk, oder die alterthümliche Bauart der Häuser und besonders des seltsamen Kirchthurmes, oder der Strand selbst anziehen mit seinem unendlichen Horizonte und dem wechselnden Spiele der Wolken und der Wogen. Die Familien fühlen sich festgehalten durch die Ruhe und Stille der meist ernsten, aber freundlichen und ehrlichen Bevölkerung, die sich meist von Gartenbau ernährt, unermüdlich arbeitet und die Producte ihres außerordentlich fruchtbaren Bodens, Kartoffeln, Artischocken und Zwiebeln, meist selbst nach England verschifft, dessen südliche Küste man in etwa zwanzig Stunden mit Segelschiff erreicht. Viele Männer sind auf der See als Matrosen oder Fischer beschäftigt, die Zurückbleibenden bestellen mit den Weibern das trefflich bearbeitete Land, das dreifache Ernten bringt, denn Roscoff kennt, trotz seiner nördlichen Lage, keinen Winterfrost, und Camellien, Veroniken und Mesembryanthemum gedeihen prächtig im Freien; die Agaven (Aloë) wachsen üppig wie bei Nizza, und der Feigenbaum des früheren Kapuzinergartens kann sich fast mit dem berühmten Kastanienbaume am Fuße des Aetna messen. Zur Zeit der Verschiffung der Gartenfrüchte herrscht reges Leben am Hafen; sonst ist Alles still und ruhig und nur zuweilen sieht man einen Bretonen, stehend auf dem Karren wie ein alter Gallier aus Cäsar’s Zeiten, sein Rößlein durch die engen Wege oder über den Strand hinunter treiben, um die Seegewächse einzuheimsen, die man während der Ebbe von den abgedeckten Felsen reißt, um sie in Haufen am Strande aufzusetzen und später als Dünger zu benutzen.
Bei tiefer Ebbe folgt eine wahre Völkerwanderung dem sich zurückziehenden Wasser, hochaufgeschürzt bis über die Kniee, barfuß im Sande watend oder die nackten Sohlen durch Sandalen (espadrilles) geschützt. Jene tragen Hauen und Schaufeln und einen Topf, an einer Schnur über die Schulter gehängt – sie wühlen den Sand und den Schlamm auf, um aus demselben die oft fußlangen Ringelwürmer, die Piere und Marphysen hervorzuholen, welche als Köder beim Fischfange dienen; diese, mit kleinen Netzen und Fischkörben bewaffnet, stellen dem Sandaale (Ammodytes) nach, der bei dem Auffurchen des Bodens sich wie ein Blitz hervorschnellt, um eine Strecke weiter auf’s Neue sich einzugraben. Andere haben größere Netze mit langem Stiele, halbkreisförmig mit engen Maschen – sie waten in den Wassergräben und Tümpeln herum, forschen die dichten Tange und Seegräser mit ihren Netzen durch und haschen so die hurtigen Crevetten (Shrimps), die in einem dichten Korbe verwahrt werden. Noch Andere schleppen Hebel und an einem Stricke gereihte Haken – sie wälzen die großen Steine um, unter welchen sich die Tintenfische und Pulpen (Octopus) mit den Meeraalen (Conger) bergen; wieder Andere sind mit lanzenförmigen, platten Eisen an kurzem Holzstiele bewaffnet, mit welchen sie die Schüsselschnecken (Patella) von den Felsen abstoßen, die dem Geflügel zu Hause zu willkommenem Futter dienen. Der Gewalthaufen der auswandernden Armee aber trägt schwere, scharfe Sicheln, womit sie die Meerpflanzen an ihren Wurzeln abhauen, und bei dieser Arbeit geht es eilig zu, wie bei der Heuernte im Innern des Landes. Die Bursche fahren heran über Stock und Stein, die kleinen Pferde zu äußerster Anstrengung antreibend, oft bis über die Naben der Räder im Wasser; das triefende Gewächs wird hastig auf den Karren geworfen; Weiber und Kinder, welche es absichelten, schwingen sich hinauf auf den nassen Sitz, und zurück geht es mit emsiger Hast, denn das Meer schwillt zusehends und droht, den Rückweg zu sperren.
Zu diesem emsigen Treiben gesellen sich die Naturforscher, deren in den Sommermonaten meistens ein Dutzend oder selbst mehr in Roscoff weilt. Gar Manches zieht sie an. Das Meer ist an sitzenden und kriechenden Thieren hier überreich, so daß nur wenige Strandorte sich in dieser Beziehung mit Roscoff vergleichen lassen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bequemlichkeit der Untersuchungen. Von den Häusern aus erreicht man unmittelbar die Sand- und Schlammstrecken, welche sich bei der Ebbe entblößen, die mit Seegräsern überzogenen wiesenartigen Gründe, die Felsen, welche vor dem Orte eine Reihe von Klippen bilden. Anderwärts hat man oft eine halbe Stunde und mehr zu waten, um zu den Jagdgründen des Naturforschers zu gelangen – hier drängt Alles sich auf engstem Raume zusammen. Freilich sind die Reviere in unmittelbarster Nähe des Ortes schon erschöpft – kein Stein, der nicht alljährlich mehrmals umgedreht worden wäre, kein Sand, in dem nicht schon die Schaufel gewühlt hätte. Aber der Strom, der von Westen her aus dem Oceane sich zwischen der Insel Batz und dem Festlande durchdrängt, bringt stets neue Schaaren von Bewohnern, die, in ihrer Jugend frei beweglich, sich im Alter festsetzen und frische Colonien bilden. Bei den gewöhnlichen Excursionen, die den Hockern und Schleichern, den Wühlern und Minirern gewidmet sind, zeigen sich die Naturforscher in ähnlicher Weise ausgerüstet, wie die
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_266.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)