Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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welcher diese Spitzengewebe zusammenstellt und den man hier pfundweise sammeln kann, während er anderwärts nur in höchst seltenen, vereinzelten Exemplaren vorkommt.
Das besuchteste Arbeitsfeld, weil das am leichtesten zu erreichende, ist das nördliche (Fig. 2), welches sich unmittelbar vor dem Städtchen, vor dem Laboratorium und dem einzigen Gasthofe erstreckt. Nach Westen zu schließt sich die Aussicht gegen den Horizont durch die große Insel Batz, die eine weitgestreckte Vormauer gegen das offene Meer bildet und auf ihrer westlichen Höhe einen schlanken Leuchtthurm und eine Sturmwarte (Sémaphore) trägt, welche mit einer über Roscoff gelegenen anderen Warte correspondirt; von der Insel Batz aus erstreckt sich bei tiefer Ebbe gegen Osten hin eine breite Sandbank bis zu einer hohe Felseninsel, welche den Namen Ti-Saoson (das Haus der Sachsen, das heißt der Engländer) trägt. An dieser Sandbank ankert alltäglich eine ganze Flotille von Schiffen, welche das geschätzte Baumaterial nach anderen Küstengegenden bringt; hierher fährt, wer den Sandaal (Ammodytes) fangen will; dorthin rudert der Naturforscher, welcher sich eine eigenthümliche, im Sande vergrabene Seescheide (Molgula) oder den Pergamentwurm (Chaetopterus) verschaffen will, der seine wie aus feinem Filze gewobene Röhre metertief im Sande verbirgt. Zwischen dieser Sandbank und einer langgestreckten Felsengruppe, welche den malerischen Vordergrund der Aussicht von Roscoff bildet, läuft ein tiefer Canal, der auch bei den größten Ebben nicht ganz trocken gelegt wird. Dort wächst ein dem Sargasso der südlichen Meere ähnlicher Tang und an diesem sitzen die niedlichen, in allen Farben prangenden Haarsterne (Comatula) und in den Monaten Juli und August ihre Jungen, die Medusenhäupter (Pentacrinus), die in ihrem gestielten Jugendzustande die vielfachen Formen ähnlich gestalteter riesiger Wesen wiederholen, welche die Meere der Vorzeit bevölkerten. Wie manches Ruder haben wir hinabgestoßen in den Sargassobusch, um diesen dann um das Werkzeug durch Umdrehen herumzuwickeln und endlich den ganzen Busch auszureißen und in das Boot zu heben, wo dann mit der Loupe jedes Stengelchen untersucht wurde, um den winzigen Pentacrinus zu finden!
Schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren begehen wir den 18. März mit einer ernsten Gedächtnißfeier für jene Männer, die im ungleichen Kampfe um die höchsten Güter der Nation ihren schönen Tod fanden, aber das stille Gedenken an jene Opfer und Märtyrer der Freiheit hindert uns nicht, uns der Ernte der blutigen Saat zu freuen und am bedeutungsvollen 18. März das Geburtsfest der Freiheit gehobenen Herzens zu feiern.
Nun ist der Tag für uns wiederum ein „stiller Feiertag“ geworden, weil wir an ihm einen der herrlichsten Schätze verloren, den das deutsche Volk besaß. An ihm schloß Ferdinand Freiligrath’s liederreicher Mund sich für immer. Und dennoch wird dem Hinscheiden des Sängers das Schmerzliche für uns einigermaßen durch den Gedanken genommen, daß Freiligrath’s Leben einen harmonischen Abschluß gefunden, daß er an dem Tage gerade seine Augen geschlossen, den sein Lied so glorreich gefeiert hat; daß endlich er, der Sänger und Prophet des Völkerfrühlings, am 21. März, dem Lenzanfange, der mütterlichen Erde übergeben wurde. Er starb in der Frühstunde bei Sonnenaufgang; sein Auge schaute den Morgen, wie sein Gesicht das Kommen der Freiheit, seiner Braut, ahnte. Albert Traeger hat in seinem ergreifenden Gedichte auf seines Freundes Tod so schön gesungen, daß, obwohl er die Freiheit selbst nicht mehr erblickt, sie ihm die bleiche Stirn doch geküßt hat.
Auf meinem Schreibtische liegen die Bilder von Freiligrath’s Geburtshause in Detmold und seinem lorbeerbedeckten Hügel des Ufkirchhofes in Cannstatt; dazwischen grüßt wehmüthig eine Locke seines von der Last der Jahre weiß gewordene Haares; ein reicher Schatz von Briefen, im Exile beginnend und bis zum letzten Jahreswechsel reichend, mahnt mich, daß ich mehr als tausend Andere in ihm verloren habe; endlich hängt mein Auge lange an dem Bilde des stillen Schläfers, wie es die „Gartenlaube“ heute bringt. Welch ein Leben spielt sich zwischen diesem Detmolder Vaterhause und der letzten Behausung Freiligrath’s auf dem Neckarhügel ab! Es ist unnöthig, die Lebensereignisse des Dichters in diesem Blatte noch einmal aufzuzählen; sie leben im Gedächtnisse seines Volkes fort. Wir weilen im Geiste im Elternhause „Unter der Wehme“ in Detmold und blicken pietätvoll nach der kleinen Tafel unter dem Fenster der Kinderstube, in welcher Freiligrath am 17. Juni 1810 das Licht erblickte.
Die „Gartenlaube“ brachte vor einigen Jahren eine Zeichnung des vermeintlichen Geburtshauses Freiligrath’s, des sogenannten Hölzermann’schen Grundstückes. Der Zeichner des betreffenden Bildes stützte sich dabei auf die Mittheilungen seiner alten Mutter, die zur Zeit im Freiligrath’schen Hause viel aus- und eingegangen war. Und doch ist jenes Haus nicht des Dichters wirkliches Geburtshaus.
Als zahlreiche Verehrer Freiligrath’s später dasselbe mit einer Gedenktafel zu versehen beabsichtigten, schrieb ich dem Freunde, er möge die in seiner Vaterstadt über die Identität jenes Hauses auseinander gehenden Meinungen klären. Die mir gewordene Antwort wünschte er damals indeß nur für die mündliche Mittheilung, nicht für die Oeffentlichkeit geschrieben zu haben, sodaß in Detmold hier und da heute noch der Zwiespalt in den betreffenden Ansichten obwaltet. Möge zur endlichen Klarstellung der Streitfrage daher heute ein Brief, der zugleich ein reizendes Bild der Jugendzeit des Dichters entwirft, auszugsweise hier folgen:
„Als Resultat meiner Nachforschungen,“ schreibt Freiligrath, „in Betreff der Detmolder Häuser kann ich melden, daß die mir gewordenen Mittheilungen entschieden zu Gunsten ‚unter der Wehme‘ lauten. Meine Autorität ist die allerbeste, die es unter den Umständen geben kann: meine gute zweite Mutter, mit der sich mein seliger Vater, etwas über zwei Jahre nach dem Tode seiner ersten Frau, meiner Mutter, im Jahre 1819 verheirathete, sie als junge Frau in das Haus unter der Wehme führte und die augenblicklich, hochbejahrt (gegen sechsundsiebenzig) und körperlich leidend, aber geistig noch vollkommen klar und frisch, in Soest lebt. Bei ihr habe ich mich nochmals nach Allem, was ihr vielleicht noch aus den Erzählungen meines Vaters in der Erinnerung sein möchte, erkundigt, und sie sowohl, wie ihre gleichfalls zu Soest lebende jüngere Schwester, behaupten auf’s Entschiedenste und ohne alles und jedes Besinnen, ja selbst ohne auch nur die Möglichkeit eines andern Geburtshauses zu unterstellen: daß ich, der öftern Angabe meines Vater zufolge, in dem fraglichen Hause unter der Wehme geboren worden bin. – Und selbst das Zimmer des Hauses, dessen Wände ich zuerst beschrieben habe, hat der Vater ihr bezeichnet, eine in’s Einzelne gehende Genauigkeit, die uns nicht in Verwunderung zu setzen braucht, wenn wir erwägen, daß mein Vater gewiß bemüht war, seine zweite Frau in dem Stillleben der Wohnung, in der er in Freud’ und Leid so mancherlei erfahren, heimisch zu machen und ihr seine geistigen und gemüthlichen Beziehungen zu den Räumen, in die er sie einführte, anzudeuten. Ich war das geliebte, einzig übrig gebliebene Kind seiner ersten Ehe; wie natürlich, daß er Ihr, die er mir zur zweiten Mutter gab, nun auch sagte: in diesem Hause, in dieser Stube ist der Junge geboren.“ „Das zarte Knäbchen von damals, um dessen Geburtsstätte es sich handelt,“ schreibt er in einem andern Briefe, „ist ein vierschrötiger alter Kerl mit grauem Kopfe geworden, und es wäre vielleicht besser, man verwahrte die Tafel für sein Grab, statt sie an sein Geburtshaus zu heften.“
Ein ander Mal berichtet er mir darüber: „In diesem meinem Geburtshause hab’ ich die ersten neun bis zehn Jahre meiner Kindheit verlebt, und meine ersten heitern und traurigen Erinnerungen haften an seinen stillen Räumen. In ihm zündeten treue, o wie lang’ schon erkaltete Hände meine ersten Weihnachtsbäume an, – in ihnen starb mir die Mutter und starben mir zwei Schwestern. Später haben wir noch in der langen Schülerstraße, am Markte und in der Bruchstraße gewohnt. ‚Unter der Wehme‘ aber bin ich geboren, und Freiligrath’s Geburtshaus und Grabbe’s Sterbehaus liegen Wand an Wand neben einander. Wie die Jahre dahinfliegen! Auch Grabbe schon einunddreißig Jahre todt!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 269. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_269.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)