Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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Geschichtsbild der ersten christlichen Jahrhunderte aufgerollt. Das Christenthum war in seinen Urkunden als ein Wunder überliefert und achtzehn Jahrhunderte hindurch als ein solches geglaubt. Aber seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gingen alle Bewegungen dahin, das Wunder für unglaubwürdig zu halten. Goethe hat im Sinne aller Träger der fortschreitenden Geistesbildung, selbst eines Jacobi, des berufenen Schutzredners der Religion des Christenthums, an Lavater geschrieben: „Du hältst das Evangelium, wie es steht, für die göttlichste Wahrheit; mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebärt und daß die Todten auferstehen; vielmehr halte ich dies für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.“ Dieses Goethe-Wort war gleichsam die Losung, um welcher ein junger Repetent im Tübinger Stift seinen Feldzug gegen die vier Evangelien begann: Strauß gab 1835 sein „Leben Jesu“ heraus; er zerrieb mit umfassender Gelehrsamkeit und meisterhafter Kunst die vier Berichte theils an einander, theils an den Thatsachen der allgemeinen Erfahrung und den Gesetzen des menschlichen Denkens, und sein Ergebniß war: dieses Leben Jesu ist Mythus.
Die Kirche gerieth in einen panischen Schrecken. Alles von der frevelhaften Hand des kalten Unglaubens niedergerissen, was bisher das Gemüth der Völker gefüllt hatte, was für das Herz Trost im Leben und Sterben gewesen war! Weg mit dieser ungläubigen Wissenschaft! Weg mit der bösen Philosophie! Weg mit der schrecklichen Kritik! Die Katheder füllten sich mit „gläubigen“ Professoren; auf den Kanzeln wurde die Vernunft wieder lutherisch behandelt, und es begann jene kirchliche Reaction der vierziger und fünfziger Jahre, an deren Folgen wir heute noch leiden.
Aber auch die Wissenschaft ihrerseits war nicht befriedigt. Sie liebt das Licht, aber der Straußische Feldzug hatte auf dem weiten Wege der ersten christlichen Jahrhunderte fast alle Lichter ausgelöscht, fast alle Wegweiser und Zaunpfähle ausgerissen und eine unwirthliche Oede zurückgelassen. Sie beruht auf dem Grundsatze vom zureichenden Grunde, aber wo war der zureichende Grund für diese weltgeschichtlichen Wirkungen des Christenthums? Daß das Leben Jesu nach den vier Evangelien ein Mythus sei, das war unzweifelhaft, aber welches Leben Jesu war dann die Wahrheit? Daß es so nicht hergegangen sein kann, war klar, aber wie war es denn hergegangen? Die Antwort auf diese Fragen, das Werk der aufbauenden Kritik, ist Baur’s unvergängliches Verdienst. Baur hat zu dem Werke seines glänzenden Schülers mehrere Jahre geschwiegen, was ihm dieser, für Lob und Dank außerordentlich empfindlich, wie er war, niemals verziehen hat, weil er dahinter Menschenfurcht oder Aerger, sich überholt zu sehen, gewittert hat. Aber mit großem Unrecht. Niederreißen geht schneller, als aufbauen, und Baur war eine tiefgründige, stetig, aber langsam vorschreitende, echt positive Natur; er war der Bohrer, der mit seinem Stahl in den Felsen drang, jede Steinschicht, durch die er drang, untersuchte und notirte und mit seinem Funde erst vor die Oeffentlichkeit trat, wenn er auf den Erzgrund gestoßen war. Immer näher und näher hatte er die feste Stelle umschrieben, von der aus er operiren konnte, und plötzlich stand er mitten inne. Es waren die bekannten vier paulinischen Briefe, das einzig Sichere und Unangefochtene auf dem schwankenden, von der Kritik unterhöhlten Boden der neutestamentlichen Literatur. Hier setzte er den Fuß auf; Auge und Ohr vorläufig gegen alles Uebrige nach rückwärts und vorwärts verschlossen, sah und hörte er nur, was auf diesem Punkte zu sehen und zu hören war; von hier schritt er mit langsam abgemessenen Schritte, jedes weitere Fleckchen Erde genau untersuchend, vorwärts bis zur Consolidirung der christlichen Kirche um die Mitte des zweiten Jahrhunderts. Als hier der Weg geebnet war, als er klar sah, was zur Zeit des Paulus und nach ihm gewesen ist, fragte er: Was muß vor Paulus gewesen sein? Worin muß die entscheidende That Jesu selber bestanden haben? Was Baur auf diesem Wege fand, das kann die Geschichtschreibung im Wesentlichen in ihre Bücher eintragen. Das Christenthum war erklärt und begriffen als eine natürliche Frucht der religiösen Entwickelung des menschlichen Geistes; wo vorher Wunder, Zufall, Unbegreiflichkeit geherrscht hatte, war jetzt innerer Zusammenhang, organische Entwickelung, eine menschlich natürliche Geschichte.
Aber sollte man zu diesem an den Quellen entdeckten Christenthum nicht sagen: „wir haben Dein Geheimniß errathen; wir wissen jetzt, was hinter Dir steckt; fertig, abgethan! Du bist der Geschichte verfallen und hast der Gegenwart nichts mehr zu sagen noch zu bieten!“? Baur dachte nicht so, und mir schien dieses Christenthum herrlicher, tiefer, gehaltreicher, als alles Christenthum der Kirchen mit seinen Legenden und Dogmen. Mir war es, ich hörte einen Luther, einen Zwingli rufen: „Jetzt endlich ist in Erfüllung gegangen, was wir zu unserer Zeit anstrebten, aber nicht erreichten. Von dem entstellten Kirchenthum wollten wir zurück zum ursprünglichen Christenthum; das war der Nerv unseres reformatorischen Kampfes. Dieses ursprüngliche Christenthum glaubten wir zu haben in den Originalurkunden unserer Religion, in den Schriften des neuen Testaments. Wir nahmen diese unbesehen aus den Händen der katholischen Kirche und unter den Voraussetzungen dieser Kirche auf, daß sie von Aposteln und Apostelschülern, also Augen- und Ohrenzeugen herrühren, daß sie überdies unter unmittelbarer göttlicher Eingebung frei von allen Spuren menschlichen Kämpfens und Irrens entstanden, der einheitliche, widerspruchslose Ausdruck des ursprünglichen Christenthums seien. Nun sehen wir aber, daß diese Schriften nicht von Aposteln oder Apostelschülern herrühren, daß sie vielmehr die Versuche von anderthalb Jahrhunderten darstellen, unter heftigen Kämpfen und Gegensätzen die christliche Wahrheit auf den richtigen Ausdruck zu bringen, daß sie daher selber etwas Abgeleitetes sind und man, um das ursprüngliche Christenthum, das wir suchten, zu finden, noch einen guten Schritt über sie hinaus und zurückmachen muß zu dem religiösen Grundgefühl Jesu selber, das den Anstoß zu dieser ganzen Bewegung gegeben hat. So erst wird das ursprüngliche Evangelium gefunden und unsere Reformation vollendet sein.“
In der That lag hierin Baur’s Leistung. Nachdem er alle diese Schriftwerke auf ihre Entstehung hin und ihrem Inhalte nach untersucht und ein jedes an seinen Ort gestellt hatte, belauschte er den Pulsschlag der Religion im Herzen Jesu selber, so weit er aus diesen Urkunden noch herauszuhören war. Er glaubte ihn noch am deutlichsten und ungetrübtesten aus dem Matthäus-Evangelium zu vernehmen,[WS 1] aus jenen Seligpreisungen der Bergpredigt, aus den herrlichen Gleichnissen, aus den geistvollen und tiefsinnigen Worten über das Wesen und die Bedingungen des Gottesreiches. Er fand die Grundstimmung des Christenthums in einem vom tiefsten Gefühl des Druckes der Endlichkeit durchdrungenen, aber in diesem Gefühle über alles Endliche und Beschränkte weit übergreifenden, unendlich erhabenen religiösen Bewußtsein, in jener Innigkeit und Traulichkeit des religiösen Gefühles, in welchem der Mensch nicht mehr der Knecht, sondern das Kind Gottes ist, in jener Gottes- und Menschenliebe, welche die Erfüllung des Gesetzes und der Propheten ist, in jener Reinheit und Lauterkeit der sittlichen Gesinnung, auf welche Jesus immer wieder zurückkommt, in seinem Kampfe gegen allen kirchlichen Heuchelschein, in jener vollkommenen Gerechtigkeit, bei der es nicht blos auf die That ankommt, sondern auf die Gesinnung, nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Geist, in jener Auffassung der Religion überhaupt, nach welcher es keine anderen Bedingungen für den Eintritt in das Gottesreich giebt, als die rein sittlichen, nämlich die Erfüllung des göttlichen Willens.
Auf diese Grundanschauungen, in welchen die Frömmigkeit und die Sittlichkeit sich die Schwesterhände reichen, müsse man, meinte Baur, als auf das ursprünglich und echt Christliche doch immer wieder zurückkommen nach all’ dem Schaden, den die Ueberwucherungen eines einseitigen Confessionalismus und die häßlichen Zänkereien um das Dogma in der Gesellschaft anrichten. Dieselbe Höhe des Christenthums, dieselbe Reinheit und Idealität der sittlichen Lebensauffassung, welche Baur in den drei ersten Evangelien als die Religion Jesu entdeckte, trat ihm auch aus den Briefen des Paulus entgegen, wie gebrechlich er auch die
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: vernehme
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_289.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)