Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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Schläuche fand, in welche dieser erste Philosoph des Christenthums den neuen Wein gefaßt hatte, wie schwach auch die Denkbegriffe und dogmatischen Anschauungen sich erwiesen, durch welche er die Thatsache des Christenthums sich und seiner Zeit zu einem denkenden Verständnisse bringen wollte. Baur’s Sprache legte den trockenen Ton der gelehrten Abhandlung ab und erhob sich zu der Wärme freudiger Begeisterung, so oft er in dem Briefe des großen Apostels auf jene Abschnitte stieß, da dieser vom Standpunkte des Religionsphilosophen aus das Christenthum mit den vorhergehenden Religionen verglich und in seinem innersten Wesen erfaßte als die Religion des mündigen und freien Menschen, der nun, da er die Quelle des Guten, den göttlichen Geist, in sich trägt, keines Zuchtmeisters mehr bedarf und die Herrschaft der sinnlichen Naturmächte, denen die Völker zuvor gedient, von sich geworfen hat, als die Religion des Gotteskindes, das den knechtischen Geist der Furcht ausgezogen hat, weil die Liebe sich in sein Herz ergossen hat – oder so oft er die Feder ansetzte, das Charakterbild jenes seltenen Mannes zu entwerfen, der im Kampfe mit dem Judaismus für die religiöse Freiheit vom Joche aller Menschensatzungen einstand durch sein Flammenwort, wie durch das Martyrium seines Lebens; jenes Mannes, der in dem weltgeschichtlichen Principe des Glaubens die Innerlichkeit des frommen Gemüthes gegenüber der Aeußerlichkeit des Abmachens und Verrichtens verkündigte, der selbstlos sein Leben in den Dienst eines rein geistigen Zweckes stellte, froh in Aengsten und Nöthen, stets im Feuer, als ein Sterbender und doch lebend, unterdrückt und doch nie verzagend, ein Armer, der Viele reich machte. Man kann Baur’s „Paulus“ nicht bei Seite legen, ohne durch alle die gelehrten Untersuchungen die Wärme herausgefühlt zu haben, mit welcher der sittliche und religiöse Gehalt des Christenthums den Verfasser erfüllte.
Baur befriedigte Beides: die Forderungen der Wissenschaft und die Ansprüche des Gemüths. Man lernte bei ihm kritisiren und glauben. Man nahm die biblischen Schriftsteller, wie sie waren; man ließ sie genau sagen, was sie sagten; man hatte kein Interesse, sie zu modernisiren; man gestand sich die ganze Kluft ehrlich ein, welche unsere heutige Anschauung von der ihrigen trennt, aber man behielt den Respect vor dem Christenthume als Religion, vor den ethischen Mächten der Hoffnung, des Glaubens, der Liebe, die es entbunden, vor dem unaussprechlichen Schatze reiner Geistigkeit in den Tiefen des Gemüthes, der in diesem oft steinigten Acker verborgen liegt, vor dieser Wunderwelt der Liebe, welche bald in unvergänglichen Lebensworten, bald in gotterfüllten Persönlichkeiten aufgeschlossen ist. Hier schien gefunden, was Lessing, noch vielfach tastend und unsicher, gesucht hatte: die Religion Jesu im scharfen Unterschiede von der Religion über Jesus; jene, ewig und unvergänglich, rief zur Nachfolge auf, diese, vom Anfange an bis heute wechselnd, sodaß nie zwei Menschen über sie einig waren, forderte die Kritik heraus.
Aber wo war die Kirche für diese Religion? Baur versetzte seine Schüler in die schwersten Conflicte, die es im Leben giebt. Trat der junge Theologe, der zu den Füßen Baur’s gesessen war, in den praktischen Dienst der Kirche, so war das Erste, was man von ihm forderte, daß er eine vor vierthalb Jahrhunderten verfaßte Glaubens- und Bekenntnißschrift, die sogenannte Augsburger Confession, unterschreibe, von welcher doch seine wirkliche Ueberzeugung durch Himmelsweiten getrennt war; kam er dann anfangs als Vicar, später als Pfarrer an eine Gemeinde, so befand er sich fast an jeder Stätte, an welche sein Amt ihn stellte, im Widerspruche mit dem von der kirchlichen Oberbehörde bewachten und geschützten Glauben derselben; diesen Widerspruch zu Tage treten lassen, bedeutete ein Meer von Unbill und Kränkung und Kummer bis zur Absetzung. Was war da zu machen? Man machte es auf alle Weise. Die Einen schützten sich vom Anfange ihres theologischen Studiums an gegen die Pfeile der „ungläubigen“ Wissenschaft durch den breiten massigen Schild, welchen Professor Beck in seinem saftigen biblischen Realismus darbot, oder durch die geschmeidigeren, mit modernem Oele getränkten Waffen, welche der liebenswürdige und weitherzige Vermittler Lauderer so gewandt handhabte. Andere machten sich den altbekannten Unterschied zwischen exoterischer und esoterischer Lehre zu nutze, predigten nach dem Spruche „Wess’ Brod ich ess’, dess’ Lied ich sing’“ den hergebrachten Glauben und behielten ihre Ansichten für sich. Noch Andere schworen die Ketzereien der Universität zur rechten Zeit bald geräuschvoll, bald stiller in die Hände des Consistoriums ab und machten Carrière. Die Besten waren redlich bemüht, die Kluft zwischen der eigenen wissenschaftlichen Ueberzeugung und dem Kirchenglauben durch ein pädagogisches Verfahren auszufüllen, indem sie das Licht des Gedankens langsam, in behutsam abgemessenen Strahlen in die dichte Schicht der kirchlichen Vorstellungen fallen ließen – ein classisches Beispiel für diesen Versuch hat Strauß in seinem „Christian Märklin“ aufgestellt –, oder sie entsagten dem Dienste der Kirche und übernahmen ein Lehramt an einer Lateinschule oder an einem Gymnasium.
Was ich in dieser Lage zu thun hätte, konnte mir nicht zweifelhaft sein. Wie verlockend auch der Traum des Pfarramts war, der von den Tagen der Kindheit her noch so schön vor dem Auge stand, meine Ueberzeugungen unterdrücken oder drehen oder bemänteln konnte ich und wollte ich nicht. Ich entschloß mich, dem Dienste der Kirche zu entsagen. Gegen den Schluß des dritten Studienjahres bat ich um Urlaub für zwei Tage, um zu den Eltern zu reisen. Ich machte ihnen meine Lage klar – meine theologischen Ansichten waren ihnen längst bekannt – und drang in sie, mir die Mittel zum Studium der Rechtsgelehrsamkeit zu bewilligen; ich versprach, durch anhaltenden Fleiß in zwei Jahren damit fertig zu werden. Aber unter heißen Thränen der Mutter beschworen sie mich, das theologische Studium zu absolviren und nur wenigstens das Examen zu machen. Es war nicht blos die ökonomische Rücksicht, was sie leitete; der Austritt aus dem „Stift“ wäre mit einer Rückerstattung der vom vierzehnten Jahre an verwendeten Stipendien verbunden gewesen. Es war noch mehr die stille Hoffnung, welche die guten Eltern nährten, daß Gott, wenn seine Zeit da sei, ihren Sohn wohl noch zum Glauben bekehren werde, wie sie sich ausdrückten. Ich konnte den Thränen und Bitten nicht widerstehen und zog, traurig zwar, in’s „Stift“ zurück, betrieb aber hinfort die theologischen Studien nur so weit, als es zur Ablegung eines erträglichen Examens nöthig war, und warf mich mit aller Kraft theils auf die Erlernung der neueren Sprachen, theils auf meine alten lieben Classiker, in der Absicht, mich auf das Lehrfach vorzubereiten. Nicht wenig bestärkte mich in diesem Fleiße die Hoffnung, die Geliebte der Jugend in wenigen Jahren heimführen zu können, während die Theologen damals ihre zehn, fünfzehn Jahre auf Vicariaten herumgeschupst wurden, ehe sie eine fixe Anstellung erlangten. Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Bald traten Ereignisse ein, die stärker waren, als der Wille der Menschen. Der folgende Abschnitt wird zeigen, wie Gott gelenkt hat.
Die Felsenreihe, welche diesen Canal von dem Hochgrunde in der Nähe des Städtchens trennt, zeigt drei Gipfel – einen größeren, die grüne Insel (l’île verte) genannt, und zwei nackte, zernagte Klötze, welche den Namen der Bourguignons tragen. Hinter diesen ragt bei der Fluth aus den Wellen eine rothe Kuppel auf weißer Grundlage – auf dem rothen Grunde steht in großen weißen Buchstaben: „Duslén“; bei Ebbe dräut dort ein hoher Thurm auf zerrissener Felsengrundlage. Ein Wahrzeichen für den Schiffer und ein Anziehungspunkt für den Naturforscher, denn auf Duslén sammeln sich die seltenen Nacktschnecken (Doris, Eolis etc.); zwischen den Blöcken bergen sich See-Igel, und in den Tangen klettern und kriechen werthvolle Würmer umher. Oestlich von Duslén deckt sich bei tiefster Ebbe eine Art Amphitheater auf, das mit dem Riffe von Pighet zusammenhängt, das
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_290.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)