Zum Inhalt springen

Seite:Die Gartenlaube (1876) 308.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

bis zur Stunde noch keine Bresche in dieselbe gelegt war, nicht mehr zu halten sei und daher von der Porte Maillot bis hinunter zur Porte Saint-Cloud geräumt werden müßte. Aber nur, um eine zweite Vertheidigungslinie desto hartnäckiger zu halten, den Schienendamm der Gürtelbahn, welcher ganz zweckentsprechend gelegen und gebaut war. Den Rückzug auf diese Linie befahl Dombrowski am folgenden Tage.

Wäre der Rückzug mit der erforderlichen Ordnung vollzogen worden und hätten sich die Rothen auf und hinter dem Eisenbahndamm gehörig einzurichten vermocht, so würden sie zweifellos im Stande gewesen sein, die Westfront der Stadt noch mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen vor dem Einbruch der Blauen zu schützen. In diesem Falle, so hat man mit Recht gefolgert, müßte die Katastrophe noch viel schrecklicher geworden sein, weil der rothe Zerstörungswahn mehr Zeit gehabt hätte, seine Absichten zu Thaten zu machen. Auf das Vorhandensein solcher Absichten ist schon früher hingewiesen worden. Doch mag hier noch die Bemerkung stehen, daß die Behauptung, es sei im Schoße der Kommune oder des Wohlfahrtsausschusses oder des Centralkomité ein förmlicher Plan zur systematischen Zerstörung von Paris im Falle der Niederlage, ein förmlicher Plan der Unterminirung, Sprengung und Verbrennung der Stadt ausgearbeitet worden, nirgends erwiesen wurde, auch durch die nachmalige Procedur der Kommunarden vor dem Kriegsgerichte nicht. Freilich, die Tendenz zu einer solchen Ungeheuerlichkeit rumorte unter mehr als einer Schädeldecke, wie uns ja von der Hand mehr als eines Mitgliedes der Kommune schwarz auf weiß bezeugt ist. Aber es wird nichts so heiß gespeis’t, als es gekocht ist, und von der fixen Vorstellung eines Narren bis zur methodischen Ausführung derselben ist ein weiter Weg. Demnach dürfte, alles zusammengehalten, die geschichtliche Wahrheit sein, daß der wahnwitzige Zerstörungsgedanke, obzwar von diesem oder jenem Fanatiker schon viel früher ausgeheckt, erst in den Nöthen des Verzweiflungskampfes systematisch-thatsächliche Gestalt gewann und daß die mit Petrol getränkte Brandfackel zunächst als strategisches Mittel in Anwendung kam. Jedoch soll damit keineswegs verneint werden, daß diese Fackel, nachdem sie einmal geschwungen war, im den Händen von Gesellen wie Ferré und Rigault zur gemeinen Mordbrennerfackel geworden und daß diese und ihnen ähnliche Bösewichte dem teuflischen Gelüste nachgegeben haben, die Zerstörung der Paläste und Häuser von Paris um der Zerstörung willen zu betreiben.

Wäre diesen Rasenden Zeit gelassen worden, ja dann würde Paris, ganz Paris in einem Flammenmeere versunken sein.

Sie hatten keine Zeit.

Montags den 22. Mai wurden in der Morgenfrühe die Pariser durch einen furchtbaren, von Westen her vorschreitenden Kanonendonner geweckt. Wer auf die Straßen hinabeilte, sah Volkshaufen vorüberlaufen und hörte sie schreien: „Die Blauen sind in der Stadt. Die Versailler sind einmarschirt.“ Oder: „Die Rothhosen sind da. Wir sind verrathen.“ Oder: „Man schlägt sich beim Viadukt von Auteuil und auf dem Marsfelde.“ Dem Geschützedonner vom Westen gibt solcher von Nordosten Antwort. Die Batterien auf dem Montmartre werfen ihre Bomben zum Triumphbogen hinüber. Neue Volkshaufen, neue Schreie der Angst, der Wuth, der Verzweiflung. Dann das alles zusammengefaßt in den Ruf: „Barrikaden!“ Auf den Boulevards wenige Eilgänger, Wirthschaften und Magazine geschlossen. Der Barrikadenbau beginnt in allen gegen den Rundplatz, aus welchem der Arc de Triomphe aufragt, hinausführenden Straßen. Vorübersprengende Officiere, kreischende Kommandoworte, fieberische Thätigkeit von Männern, Frauen, Kindern, welche Pflastersteine und anderes Barrikadenmaterial herbeischleppen. Hochaufgeschürzte Amazonen, Ingrimm in den bleichen Gesichtern, die rothe Kappe auf’s wirre Haar gestülpt, haben sich vor Mitrailleusen gespannt und ziehen dieselben im Laufschritte herbei. Vorbeigehende, die weder Bürgerwehrröcke noch Blusen anhaben, werden ohne Umstände zum Steinetragen gepreßt, mehr oder weniger höflich oder grob. „Nicht wahr, Monsieur, Sie werden so freundlich sein, uns ein bißchen zu helfen?“ Aber auch aus der Dur-Tonart: „Bürger, du wirst so gefällig sein, uns nicht zu bespioniren, sondern Steine herbeizutragen, oder ich schlage dir den Schädel ein.“

Die Blauen waren also in der Stadt. Wie war das zugegangen? Hatte wirklich der Prophezeiung des Bürgers Jules Vallès gemäß einer der Kommune-Generale dieses oder jenes Thor an die Versailler verkauft? Nein. Ihr Erfolg, d. h. die Möglichkeit des Eindringens in die Stadt, war für die Regierungstruppen selbst eine Ueberraschung gewesen. Die zweite Belagerung von Paris endete mit einem Handstreich, welcher zunächst durch die kühne Entschlossenheit eines einfachen Bürgers ermöglicht wurde.

Die Belagerer hatten ihre Laufgräben bis unter den Wall vorgetrieben. Bis Dienstags den 23. Mai hofften sie Bresche schießen und dann zum Sturmangriff schreiten zu können. Sie wußten nicht, daß die Ueberlegenheit ihrer Batterien den Rothen die längere Behauptung der Umwallung unmöglich gemacht und demzufolge Dombrowski den Rückzug zum Gürtelbahndamm befohlen hatte. Ebenso unbekannt war ihnen, daß dieser Rückzug sehr unordentlich bewerkstelligt wurde und die Streiter der Kommune, statt an ihrer neuen Aufstellung sich gehörig einzurichten, vorgezogen hatten, in den Schenken von Auteuil und Passy sich ein Sonntagsvergnügen zu machen. Bei sothanen Umständen war die Umwallung aufgegeben und leer, der Bahndamm dagegen entweder noch gar nicht oder doch nur ungenügend besetzt.

Um 3 Uhr Nachmittags sahen Rothhosen, welche in der bis nahe vor die Bastionen der Porte Saint Cloud getriebenen Tranchée wachtstanden, einen bürgerlich gekleideten Mann auf der Höhe der Umwallung erscheinen, ein weißes Tuch schwenkend. Das war der Bürger Jules Ducatel, ein Subalternbeamter beim städtischen Straßenwesen. Mit Einsetzung seines Lebens benützte er den günstigen Augenblick, um die Regierungstruppen zu verständigen, daß sie den Wall übersteigen könnten, ohne Gegenwehr zu finden. Ein Kapitän von Genie, Garnier, der an dieser Stelle die Belagerungsarbeiten leitete, bemerkte den winkenden Mann ebenfalls, traute jedoch dem Gewinke nicht recht, sondern argwohnte auf Seiten der Rothen die Kriegslist, die Blauen auf eine Mine zu locken. Trotzdem, da Ducatel, auf die Gefahr hin, in jedem Augenblick von Wehrleuten der Kommune in seinem gefährlichen Beginnen überrascht und niedergeschossen zu werden, mit seinem Taschentuche zu wehen fortfuhr, näherte sich der Officier dem Manne bis auf Gehörweite, rief ihn fragend an und erfuhr von ihm den Sachverhalt. Garnier vergewisserte sich mittels einer sofort vorgenommenen Erkundung von der Wahrheit der Aussage Ducatels, und ein gerade zufällig in den Laufgräben weilender Seekapitän, Namens Trèves, depeschirte die unverhoffte Neuigkeit nach Versailles. Die Führer der zunächst stehenden Truppentheile wurden ebenfalls eilends benachrichtigt und begannen noch vor 4 Uhr ihre zweckdienlichen Bewegungen. Die Division Vergé bemächtigte sich der Porte Saint Cloud, die Division Berthaut des Raumes zwischen der Umwallung und dem Bahndamm. Dann wurden fliegende Kolonnen innerhalb der Wälle nordwärts vorgeschoben, um sich der Thore von Auteuil und Passy zu bemächtigen, durch welche dann die draußen bereitstehenden Mannschaften des Generals Ladmirault hereindrangen. Etwas später marschirte auf der Südseite das Korps Cissey durch die Thore von Versailles und Vanves im die Stadt. Die Dunkelheit war noch nicht völlig hereingebrochen, als sich schon 80,000 Mann Regierungstruppen auf der Stadtseite der Umwallung befanden, die drei Korps der Generale Douay, Ladmirault und Cissey. Es muß denn doch eine große Lockerung und Lotterung unter den Rothen eingerissen gewesen sein an jenem Sonntagsabend. Denn der Widerstand, welchen die Blauen fanden, war so nichtssagend, daß sie noch an demselben Abend zu weiterem Vorgehen sich entschließen konnten. Die Dunkelheit begünstigte diese weiteren Handstreiche, welche das Schloß La Muette, den Trocadero, den Triumphbogen, das Marsfeld und das ganze Quartier Vaugirard in die Gewalt der Truppen brachten. Auf dem Trocadero und beim Arc de Triomphe versuchten die überraschten Rothen allerdings Gegenwehr, vermochten aber damit nicht aufzukommen. Am letztgenannten Orte waren sie mitten im Bau einer Batterie überrascht worden. Die Blauen kehrten die Geschützemündungen alsbald gegen die Champs Elysées hinab und schickten Kugeln bis zum Industriepalast und Eintrachtsplatz. Diese Begrüßung beantworteten die Rothen mit Geschossen, welche eine von ihnen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 308. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_308.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
OSZAR »