Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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auf der Terrasse der Tuilerien errichtete Batterie die Prachtstraße der Champs Elysées entlang zum Triumphbogen hinaufsandte.
In der inneren Stadt vernahm man wohl dieses Kanonenduett, aber man war solchen Singsangs seit Monaten so gewohnt, daß man sich zum Schlafen niederlegte, ohne zu ahnen, daß die Blauen innerhalb der Umwallung. Soweit diese am Abend in der Dunkelheit hatten vordringen können, waren sie in diesen Quartieren, namentlich in den Westendquartieren rechts der Seine laut sympathisch empfangen und als Befreier begrüßt worden. Das war ganz in der Ordnung. Aber nicht in der Ordnung war, daß die Soldaten der Regierung jetzt schon alle Rothen, deren sie habhaft werden konnten, erbarmungslos niedermachten und von ihren Offizieren von dieser Mordwuth keineswegs abgemahnt, sondern vielmehr noch dazu angeeifert wurden. Alle auch nur halbwegs anständigen Menschen in Europa haben sich über die Gräuel, welche die Rothen während des Verzweiflungskampfes der Kommune verübten, entsetzt. Aber der nur allzu gerechtfertigte Abscheu hätte nicht bloß auf eine Seite fallen sollen. Denn nicht allein die rothen Besiegten, sondern auch die blauen Sieger haben sich wie wilde Bestien aufgeführt. Nein, nicht so; sondern so wild und wüst, wie nur der Mensch, nicht das Thier, zu wüthen vermag. Da, in dieser schrecklichen pariser Woche hat sich die vielgerühmte „christliche“ Civilisation wieder einmal herrlich sehen lassen, wie sie sich eben immer und überall sehen ließ und sehen läßt, wo die elementaren Triebe und Leidenschaften der Menschenbestien, alle konventionellen Anerzogenheiten abstreifend, kämpfend aufeinanderprallten und aufeinanderprallen. …
Das war ein Erwachen am Morgen dieses 22. Maitags! Von Vaugirard im Süden bis zum Montmartre und La Villette im Norden, vom Quai d’Orsay und von der Madeleine im Westen bis nach Belleville und zum Pere Lachaise im Osten lief der Schreckensruf: „Die Versailler sind in der Stadt.“ Aber alsbald rollte diesem Ruf wie ein Widerhall der Alarmschrei nach: „Zu den Waffen! Auf die Barrikaden!“ Und mit diesen in tausenderlei Modulationen wiederholten Rufen und Schreien mischten sich das Wirbeln der Trommeln, Hörnersignale, das Heulen von tausend Sturmglocken, das Rasseln fahrender Geschützzüge, das „Husten“ der Mitrailleusen, Bombengezische, Chassepotsgeknatter – und alle diese Laute flossen zusammen in einem chaotischen Schwall, in ein dumpfes, unartikulirtes, nervenfolterndes Gedröhne. Man konnte glauben, das Todesröcheln der Riesenstadt zu hören.
Noch war es aber nicht so weit. Die rothe Fahne senkte sich nicht faul und feig vor der trikoloren. Nein, bis zur äußersten Möglichkeit wurde sie emporgehalten, solange überhaupt noch Arme da waren, sie zu halten. Nur deutsche Hofhistoriographen, Leute ohne Eingeweide, Liberale mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung konnten bestreiten wollen, daß hier für eine schlechte Sache mit einem Todesmuth gestritten wurde, wie er selbst für eine beste nie heldischer aufgewendet worden.
In der Frühe wurde ein Aufruf vom Kriegsdelegirten Delescluze ausgegeben, der zum Widerstande bis auf’s Messer aufforderte. Ein wunderliches Dokument, ganz aus unbestreitbaren Wahrheiten und grotesken Lügen zusammengerührt. Alles aus dieser Tonart: „Zu den Waffen, Bürger, zu den Waffen! Ihr wißt, es handelt sich darum, zu siegen oder den Pfaffenknechten von Versailles in die unbarmherzigen Hände zu fallen, diesen Schuften, welche Frankreich den Preußen ausgeliefert haben und uns jetzt den Preis für ihren Verrath bezahlen lassen wollen. Zu den Waffen! Auf die Barrikaden!“
Die Kommune, des Centrums der Stadt, sowie der im Norden und Osten gelegenen Vorstädte sicher, hatte also den Kampf um ihr Sein und Nichtsein an- und aufgenommen. Nicht vergebens auch rief sie zu den Waffen. Wohl an 50,000 Streiter gehorchten dem Rufe, darunter ganze Bataillone von Amazonen. Es mußte selbst von den Siegern, als sie die Geschichte der Besiegten schrieben, widerwillig anerkannt werden, daß von Frauen die Barrikaden häufig am hartnäckigsten vertheidigt wurden. Auf den endlich von den Truppen erstürmten Trümmern vieler dieser improvisirten Citadellen fand man die Leichen schöner Mädchen, auf der Schulter die Offiziersepauletten, im jungen Busen die Todeswunde. Ueberwältigt und gefangen, ließen Streiterinnen der Kommune nicht ab, noch mit den Fäusten und Zähnen zu kämpfen, bis man sie niederschoß.
Das unerwartete Eindringen der Blauen hatte das Vertheidigungssystem der Rothen sehr lückenhaft gelassen. Der Barrikadenbau konnte in vielen Straßen erst Montags den 22. Mai angehoben werden und mußte daher überhastet werden. Etliche Hauptpunkte jedoch konnten für wohlvorbereitet gelten, dem Angriff zu trotzen. So auf dem linken Stromufer das rechts von der Rue Jacques gelegene Pantheonquartier, auf dem rechten das Hôtel de Ville, der Vendômeplatz, das Chateau d’Eau, weiterhin die Butte Montmartre, die Butte Chaumont oberhalb Belleville und der bekannte Kirchhof Pere Lachaise, ostwärts zwischen der Gürteleisenbahn und der Umwallung gelegen.
Am 22. Mai hörte die Kommune als solche zu existiren auf, indem sich ihre Mitglieder an ihre verschiedenen Posten in den einzelnen Bezirken begaben. Zu einer vollzähligen gemeinschaftlichen Berathung traten sie nicht wieder zusammen. Im Stadthause verblieb nur die Delegation beim Kriegswesen und das Komité der öffentlichen Sicherheit. Die letzte Nummer des „Journal officiel“ kam am 23. Mai heraus. Zu den letzten Bekanntmachungen der Kommune, die aber schon nur noch von Hand zu Hand verbreitet werden konnten, gehört das berüchtigte, vom „3. Prairial des Jahres 79“ datirte, von Delescluze, Regère, Ranvier, Johannard, Vesiner, Brunel, Dombrowski unterzeichnete Branddekret: „Bürger Millière wird an der Spitze von hundert Zündern (fuséens) die verdächtigen Häuser – (d. h. Häuser, aus welchen irgendein feindseliger Akt hervorgehen sollte) – und die öffentlichen Denkmäler auf dem linken Ufer anzünden. Bürger Derreure mit hundert Brandmännern ist für das 1. und 2. Arrondissement beauftragt. Bürger Billioray mit hundert für das 9. und 10. Arrondissement. Bürger Besiner mit fünfzig im Besonderen für die Boulevards von der Madeleine bis zur Bastille. Die Bürger werden sich mit den Barrikadenchefs in’s Einvernehmen setzen, um die Ausführung dieser Befehle zu sichern.“ Gegen die Echtheit dieses Dokumentes haben sich jedoch schwerwiegende Bedenken erhoben, so schwere, daß ich es ausdrücklich nur als ein zweifelhaftes gelten lassen kann, so sogar, was meine persönliche Meinung angeht, für ein nachträglich fabricirtes anzusehen geneigt bin. Dagegen halte ich den berechtigten, obzwar von rother Seite her ebenfalls für untergeschoben erklärten, lapidarisch-lakonischen Brandbefehl Ferré’s: „Verbrennt sofort das Finanzministerium (faites de suite flamber Finances)!“ für echt, bis die Falschheit der Unterschrift dargethan ist.
Wäre des Grafen und Abbé Sieyès Todesvotum gegen den sechszehnten Ludwig („la mort sans phrase“) nicht apokryph, so hätten wir hier ein recht dazu passendes Parallelwort: – „Die Brandfackel schlechtweg!“ Aber klingt aus dem Brandbefehl des Bürgers Ferré für hörende Ohren nicht etwas wie Weissagung heraus? Etwas, das alle die „Großen Bücher“ in den Finanzministerien Europas bedroht? Könnte es nicht geschehen, daß unsere Nachkommen zu der Einsicht gelangten, sie wären für die Sünden ihrer Vorfahren doch eigentlich nicht verantwortlich? Nicht verantwortlich und haftbar für unsere gewissenlose Staatsschuldenmacherei, für dieses selbstsüchtige Vorwegessen der Zukunft, für diese schändliche Belastung noch ungeborener Geschlechter? Wird die Prämisse der gesammten dermaligen Finanzwissenschaft, d. h. Schuldenwirthschaft, die ja zumeist nur der Raubritterschaft vom goldenen Kalbe zu gut kommt, nicht logischer Weise zu der Konklusion führen: „Unser Schuldbuch sei vernicht!“ und müßte dann ein europäisches „Faites flamber Finances!“ nicht als Wahrspruch der Nemesis anerkannt und begrüßt werden? …
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_309.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)