Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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Augenblick schwanken, zu bleiben,“ ergänzte er fliegenden Athems mit einem so ungeduldig verzehrenden Blicke, als zürne er den Lippen, daß sie nicht rasch genug bestätigten.
„Nein, Herr Doctor, Sie triumphiren zu früh,“ rief sie mit einer Art von wilder Schadenfreude. „Der obstinate Goldfisch durchbricht das Netz. Ich gehe, ich gehe heute noch. Ich kam vorhin nur, um mich von der Frau Diakonus zu verabschieden, und würde daher gelächelt haben über das Verbannungsdecret, das Sie gegen mich richteten, wenn es mich nicht so schmerzlich berührt hätte. Meine Schwestern haben mir vorhin die blinden Augen geöffnet und mir in prächtiger Perspective ‚das Glück‘ gezeigt, das man für mich beabsichtigt. Ich hatte im Moment der Eröffnung das Gefühl, als gäbe es aus dem blauen Salon der Frau Präsidentin nur noch einen Weg für mich, den directen, sofortigen nach der Eisenbahn, die mich heimbefördere, und ich wäre auch gegangen, wenn ich mich nicht meiner übernommenen Pflichten erinnert hätte. Ich gehe nicht für lange, nur für die Zeit, in der ich Moritz von der Ferne aus überzeugt haben werde, daß er mir nie und nimmer mit einer anderen, als seiner streng vormundschaftlichen Beziehung kommen darf, daß ich ihm stets die entschiedenste Abneigung zeigen werde, sobald er Miene macht, einen anderen Ton, als den des väterlichen Berathers anzuschlagen.“
Ihr Busen hob sich in tiefen, befreienden Athemzügen, und die heiße Gluth, die ihr Gesicht bis an die Haarwurzeln überströmte, war das hinreißende Erröthen widerstrebender Scham, aber man sah, sie wollte es um jeden Preis klar werden lassen zwischen sich und dem Manne, der sich, während sie sprach, emporrichtete, hoch und elastisch, als werde plötzlich eine niederdrückende Wucht von seinen Schultern genommen.
„Seit dem Tage, wo wir Henriette so schwer leidend in Ihr Haus brachten, besteht ein schönes Verhältniß zwischen der Frau Diakonus und meiner armen Schwester,“ fuhr Käthe rascher fort; „ich kann ruhigen Herzens gehen, wenn die Tante sich Henriettens annimmt. Um diesen Liebesdienst wollte ich sie bitten; deshalb kam ich hierher. Ich werde ihr nun von Dresden aus schreiben; denn Sie begreifen wohl, daß die von Ihrem Grund und Boden Verbannte auch nicht einmal die kurze Strecke von hier bis zu dem Hausflure je wieder beschreiten wird.“
Mit diesen Worten ging sie an ihm vorüber. „Leben Sie wohl, Herr Doctor!“ sagte sie mit einer leichten Verbeugung und schritt nach der Brücke. Jenseits des Holzbogens, beim Umschreiten der Pappel, wandte sie den Kopf noch einmal nach dem lieben, alten Hause zurück. Dort an der Ecke lugten die Kinderköpfchen neugierig und kichernd eines über dem anderen, neben dem Gartentische aber stand der Doctor, beide Hände sonderbar schwer auf die Tischplatte stützend, und aus seinem aschfahlen Gesichte starrten die Augen mit einem fast wilden Blicke ihr nach.
Seltsames Mädchenherz! Sie flog ohne Besinnung über die Brücke zurück, über den verpönten Weg, den sie nie mehr beschreiten wollte – sie wäre noch weiter gelaufen, in die weite Welt hinein, ihm zu Hülfe.
„Ach, Sie sind krank?“ stammelte sie, ihre warmen, geschmeidigen Hände angstvoll auf die seinen legend.
„Nein, nicht krank, Käthe – nur das, was Sie mir, wenn auch in einem anderen Sinne, schuld gegeben – ein erbärmlicher Schwächling!“ stöhnte er und strich sich mit einer heftigen Geberde das nach vorn gefallene reiche Lockenhaar aus der Stirn zurück. „Gehen Sie, gehen Sie! Sehen Sie denn nicht, daß ich in einem Seelenzustande bin, für den jedes Wort der Theilnahme, jeder warme Blick zum Dolchstoß wird?“ rief er rauh, und doch bog er sich blitzschnell nieder und preßte seine Lippen fest und heiß, wie in wahnsinnigem Schmerz auf die Mädchenhand, die noch auf seiner Linken lag.
Erschreckt fuhr das junge Mädchen zusammen, allein sie fühlte ihr Herz von einem nie gekannten, beseligenden Zärtlichkeitsgefühl überströmen, und es schwebte ihr auf den Lippen zu sagen: „Nein, ich gehe nicht – Du bedarfst meiner.“ Da stand er jedoch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr und winkte mit schmerzentstelltem Gesicht stumm, aber gebieterisch nach der Brücke – und jetzt floh das Mädchen, als schreite der Engel mit dem feurigen Schwerte hinter ihr. …
Einige Stunden später stieg sie in Hut und Schleier, eine Reisetasche in der Hand, eine Seitentreppe der Villa geräuschlos herab – sie ging, wie sie gekommen war, plötzlich, unerwartet. Henriette hatte, wenn auch tödtlich bestürzt und unter heißen Thränen, dennoch in die schleunige Abreise und mehrwöchentliche Abwesenheit der Schwester gewilligt, da sie sich selbst sagen mußte, daß auf Flora’s unumwundene, tactlose Mittheilungen hin nun eine Reihe peinlicher Auftritte für alle Theile folgen würde. Sie war auch damit einverstanden, daß Käthe stillschweigend gehe und von Dresden aus ihre Willensmeinung äußere, während sie selbst es übernahm, die Verwandten von der Abreise in Kenntniß zu setzen. Dafür stellte sie die Bedingung, daß Käthe sofort zurückkehre, gleichviel wann, und möge sie auch sein, wo sie wolle, sobald die kranke Schwester eine Stütze brauche und sie rufe.
Henriette blieb droben an der Treppe stehen und streckte der Scheidenden die Hände nach, während Käthe den Schleier über die verweinten Augen zog. Wie ein Lichtmeer wogte es durch das Haus; alle Gasflammen loderten, und am Portale fuhr donnernd eine Equipage nach der anderen vor. Für einen Moment war Käthe gezwungen, in einen Seitencorridor zu flüchten; dort, an die Wand gedrückt, sah sie Damen in eleganter Abendtoilette vorüberrauschen. Die Lakaien schlugen die Thüren des blauen Salons weit zurück, und drinnen stand Flora im spitzenbesetzten, blaßrothen Seidenkleide, strahlend schön und vornehm lächelnd wie ein Fürstenkind, und begrüßte die Gäste, die um ihretwillen kamen – der Commerzienrath gab ihrem Geburtstag zu Ehren eine große Soirée.
Bei diesem Anblick war es der Lauschenden draußen, als gingen schneidende Schwerter durch ihre Seele. Dort stand die Uebermüthige, umschwebt vom Glück, das ihr förmlich bettelnd nachgelaufen war, ob sie es auch verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen hatte – und hier verbarg sich die Hoffnungslosigkeit, scheu wie die Sünde. Warum war aller Glücksreichthum, die ganze Fülle von Liebesseligkeit auf dieses eine Haupt gehäuft, das ihrer entbehren konnte, während die andere Schwester inmitten ihrer Goldschätze hungernd und entsagend durch das Leben gehen sollte?
Die Thürflügel fielen zu, und Käthe eilte hinaus in den Park, von einer Verzweiflung erfüllt, wie sie nur ein junges, heißes Herz zu erschüttern vermag, und während die Kammerjungfer droben ahnungslos ihrer harrte, um auch ihr beim Ankleiden für die Soirée behülflich zu sein, pochte sie an das erleuchtete Mühlenfenster und berief Franz, sie nach dem Bahnhof zu begleiten. …
Seitdem waren mehr als drei Monate verstrichen. Nie hatte sich Käthe so eifrig in ihr Musikstudium versenkt, wie in dieser Zeit, aber auch ihr übriges Wissen hatte sie auszudehnen und zu vertiefen gewußt mit jener fieberhaften Hast, die in angestrengter Arbeit und Thätigkeit – Vergessenheit sucht. Henriette hatte eine Art Tagebuch für sie angefangen, das sie allwöchentlich schickte. Diese Blätter erzählten ihr, wie sich seit ihrer Abreise das Leben in der Villa weiterspann. Sie las nur zwischen den Zeilen, daß die Präsidentin förmlich neu auflebe, aber auch anmaßender und despotischer als je im Hause herrsche; unumwundener dagegen sprach Henriette aus, daß die Großmama Käthe’s plötzlichen Entschluß, „um des dabei an den Tag gelegten Tactes willen“, geradezu in den Himmel hebe, während Flora die Achseln zucke und von Backfischstreichen spreche. Der Commerzienrath hatte mehrere Tage mit ihr gegrollt, ihrer unbefugten Einmischung wegen. Er war an jenem Abend, wo ihm Henriette in einer Ecke des Musiksalons leise das Geschehene mitgetheilt, blaß geworden vor Schreck und Verdruß, und nur die Anwesenheit der Gäste hatte eine heftige Familienscene verhindert, die jedenfalls um so erbitterter ausgefallen wäre, als auch Flora den ganzen Abend sehr verstimmt und pikirt gewesen war – der Bräutigam hatte sich mit Berufspflichten entschuldigt und war in der Geburtstagssoirée nicht erschienen.
Der Commerzienrath hatte gleich zu Anfang an Käthe und
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 313. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_313.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)