Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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die Doctorin geschrieben und „behufs einer Aussprechung“ seinen Besuch in Dresden für den Juni angekündigt, allein das Tagebuch theilte in jener Zeit mit, daß häufiger als je Depeschen in der Villa einliefen, daß der Commerzienrath weit mehr in Berlin als daheim und mit Geschäften vollständig überbürdet sei. Der Besuch unterblieb; nur selten kam ein flüchtiger Geschäftsbrief von der Hand des Vormundes, und die letzte Geldsendung hatte – was bisher nie geschehen – der Buchhalter abgeschickt.
Käthe athmete auf; der gefürchtete Conflict war ohne allen Zweifel beseitigt. Der Herr Vormund hatte aus ihrem Antwortschreiben die Ueberzeugung gewonnen, daß er niemals hoffen dürfe, und sich vernünftiger Weise beschieden. Das junge Mädchen hätte nunmehr als Pflegerin zurückkehren können, dem aber widersetzte sich die Doctorin energisch, weil Käthe, wie sie oft tadelnd und bekümmert aussprach, so sehr verändert, mit dem Verluste ihres jugendlichen Frohsinns und ihrer frischblühenden Gesichtsfarbe heimgekommen sei. Zudem hatte die Baronin Steiner in der That mit ihrem Gefolge für zwei volle Monate Einzug in der Villa gehalten und sich dermaßen ausgebreitet, daß kein Winkelchen in der Beletage unbesetzt geblieben war.
Käthe selbst schauderte bei dem Gedanken an eine Rückkehr, so lange die Uebersiedelung nach L…..g nicht stattgefunden hatte. Sie wußte nur zu gut, daß sie jetzt nicht mehr monatelang mit äußerer Ruhe inmitten der dortigen Verhältnisse ausharren könne – bedurfte es doch selbst in Dresden all’ ihrer Kraft, nicht zu zeigen, daß sie ihren inneren Frieden verloren habe, daß sie fast übermenschlich ringe mit der süßen, zwingenden Gewalt, die sich ihrer Seele bemächtigt, und welche die Menschen Sünde nannten. Henriette hatte ja auch noch nicht „gerufen“, trotz ihrer leidenschaftlichen Klagen über die Sehnsucht nach „der starken, besonnenen Schwester“; sie sprach im Gegentheil mit enthusiastischem Danke von der Aufopferung, mit der sie von Seiten der Tante einstweilen gepflegt und verhätschelt werde. Ihr Tagebuch war eigentlich auch nur eine fortlaufende Schilderung, in der zwei Menschen die Hauptrolle spielten, der Doctor und die Tante. Alles, was sich im Hause am Flusse ereignete, wurde getreulich mitgetheilt, und war es auch nur der jähe Tod der gelben Henne, die endlich doch ein tückisches Zuschnappen des grimmen Feindes vor der Hundehütte aus der Welt befördert, oder der außergewöhnliche Traubenreichthum, der in diesem Jahre am Weinspalier hing; selbst ein neu angeschafftes silberweißes Kätzchen, „das sich auf dem Sopha der Tante breit mache“, wurde als Merkwürdigkeit aufgezählt – das waren die harmlosen Momente, sonst aber trug das Tagebuch eine düstere Färbung. Manche Stellen lasen sich, als müßten die Briefblätter noch thränenfeucht sein, andere wieder so leidenschaftlich fortreißend, als sei aus den schreibenden Fingern Feuer in die Feder geströmt. Ueber das bräutliche Verhältniß zwischen Flora und dem Doctor fiel auch hier kein Wort, wohl aber wurde angstvoll geklagt, daß der Letztere in Folge seiner aufreibenden ärztlichen Thätigkeit sich auffallend verändere; nur den Kranken gegenüber sei er mild und geduldig, im geselligen Umgange dagegen verfinstert, wortkarg wie nie und sichtlich reizbar; in seiner äußeren Erscheinung verfalle er zum Befremden Aller.
So war allmählich der Zeitpunkt herangerückt, auf welchen man die Hochzeit festgesetzt hatte. Flora hatte es unterlassen, die ferne Stiefschwester einzuladen; sie habe den Kopf voll – schrieb Henriette – eine Reihe von Fêten, die ihr zu Ehren noch gegeben würden, lasse sie kaum zu Athem kommen; dazu sei sie capriciös wie immer, auch bezüglich ihrer Aussteuer und der Vermählungsfeierlichkeiten – es werde fortwährend noch ausgewählt und geändert zur Verzweiflung der Lieferanten. Henriette befand sich in unbeschreiblicher Aufregung; sie betonte wiederholt, daß sie in dem Hochzeitstrubel um keinen Preis allein bleiben wolle. Die Tante Diakonus werde ihr in „den entsetzlichen Tagen“ voraussichtlich keine Stütze sein, da sie selbst schon jetzt unter dem Trennungsweh leide und oft auffällig verstimmt und bewegt sei. Diese Klagen steigerten sich von Blatt zu Blatt, bis eines Abends, wenige Tage vor der Hochzeit ein Telegramm einlief, welches lautete: „Komme sofort! Ich bin auch körperlich sehr elend.“
Da galt kein Zögern; auch die Doctorin war damit einverstanden, daß Käthe gehe – und das junge Mädchen selbst? Ein Nervenschauer um den anderen durchschüttelte sie aus Angst vor dem Kommenden, und dabei jubelte sie auf in unbeschreiblicher Seligkeit, daß sie den noch einmal sehen sollte, der – ihr Schwager wurde.
Da stand sie nun an einem Septembermorgen wieder in der Schloßmühlenstube. Sie war mit dem Nachtzuge gefahren und eben angekommen. Bei ihrer Abfahrt hatte sie Franz telegraphisch ihre Ankunft mitgetheilt, und liebevoller hätten Mutterhände ihre Aufnahme nicht vorbereiten können, als die alte Suse gethan. Die große, von dem durch die Kastanienwipfel hereinfallenden grünen Dämmerlichte angehauchte Stube war erfüllt von den Düften der Heliotropen, Rosen und Reseden, die auf den Fenstersimsen standen; saubere Decken lagen auf allen Tischen; im Alkoven lockte ein blüthenweißes Bett, und auf dem großen Eichentische mit den plump ausgespreizten Füßen stand die wohlbekannte kupferne Kohlenpfanne, mit ihrer Gluth den Kaffee warm erhaltend. Sogar der selbstgebackene Kuchen war noch fertig geworden und stand, zuckerbestreut, in bräunlicher Schöne neben der vergoldeten Tasse, dem Prachtstücke aus dem Glasschranke der seligen Schloßmüllerin.
Nun schütterten die schneeweiß gescheuerten Dielen wieder unter den Füßen des jungen Mädchens, und durch die offenen Fenster kam das Rucksen der Tauben und das Tosen des fernen Wehres – sie war daheim. Von hier aus wollte sie die kranke Schwester besuchen und um keinen Preis die Gastfreundschaft im Hause des Commerzienrathes annehmen, mochte auch die Frau Präsidentin die Nase rümpfen über den anstößigen Verkehr zwischen Villa und Mühle.
Käthe war in einer seltsamen Stimmung. Furcht vor dem ersten Wiedersehen in der Villa, schmerzliche Sehnsucht nach dem Hause am Flusse, dessen Wetterfahnen sie mit hochklopfendem Herzen von dem südlichen Eckfenster aus erblickte, und das sie doch nicht betreten durfte, leidenschaftliche Ungeduld, der hohen Gestalt, wenn auch nur noch ein einziges Mal, zu begegnen, die sie hier in der Mühle zum ersten Male gesehen und – das sagte sie sich ja täglich unter tausend Schmerzen – seit jenem Momente geliebt hatte: das Alles wogte in ihr, und daneben schlich eine unerklärliche Bangigkeit und Beklemmung. Schon seit Monaten füllten die Sensationsnachrichten von dem Zusammenbrechen des Gründungsschwindels in Wien und später in der preußischen Hauptstadt die Spalten der Zeitungen. In allen öffentlichen Localen, in allen Salons war der welterschütternde Einsturz dieses modernen Thurmes zu Babel das Tagesgespräch, und selbst in dem kleinen ästhetischen Cirkel der Doctorin hatte man die Ereignisse wiederholt erörtert. Während der Eisenbahnfahrt von Dresden nach M. waren sie auch das ununterbrochene Gesprächsthema der Mitreisenden gewesen – man hatte haarsträubende Dinge erzählt und noch Schrecklicheres prophezeit, und nun sah Käthe mit eigenen Augen eine der Folgen dieser Calamität. In das Gelärme der Tauben und das Rauschen des Wehres hinein klang das laute Durcheinander von Menschenstimmen, und schräg hinter der letzten Kastanie hervor konnte das junge Mädchen den großen Kiesplatz vor der Spinnerei überblicken; er wimmelte, genau wie an jenem Tage des Attentates, von Arbeitern, die bald mit allen Zeichen der Niedergeschlagenheit, bald heftig streitend und drohend unter einander verkehrten – die Actiengesellschaft, welche die Spinnerei von dem Commerzienrathe gekauft, hatte Bankerott gemacht; eben war die Gerichtscommission in der Fabrik erschienen, und die Leute stoben im ersten Schrecken wie Spreu aus einander.
„Ja, ja, so geht’s,“ sagte Franz, der eben Käthe’s kleinen Koffer heraufgetragen hatte. „Den Leuten war’s zu wohl, und sie meinen, es ginge ihnen noch lange nicht gut genug; nun gehen sie von einer Hand in die andere und kommen mit der Zeit vom Pferde auf den Esel. ’s ist aber auch eine schlimme Zeit, eine heillose Zeit. Jeder will sein Geld mit Sünden verdienen und womöglich die Ducaten von der Straße auflesen, und man kann’s den Kleinen kaum noch verdenken, die Großen machen’s ja nicht besser.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_314.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)