Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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„Wenn ich mich wohl rühmen kann,“ sprach der allbeliebte Erzähler im Tone der Bescheidenheit, „daß ich die Art getroffen habe, die den Kindern wohlthut, so will ich auch sagen, wie ich meine Stoffe finde. Ich nehme nicht das erste Beste und mache den Kindern auf Gerathewohl eine Geschichte vor. Ich muß schon vorher einen Prüfstein der Wirkung haben. Diesen finde ich bei meiner Lectüre. Ich lese Geschichtswerke, Reisebeschreibungen, Biographieen; ich lese aufmerksam täglich die Zeitung. Begegnet mir da etwas, was mich anzieht, so lese ich langsamer, und rührt mich dann etwas, so halte ich inne. Hat mich etwas gerührt, hat mir etwas die Thräne in’s Auge gelockt, da weiß ich sogleich, es strömt meine Quelle. Beziehungen auf Umstände, die diese Wirkungen hervorgebracht haben, sind dann leicht erfunden; ich habe einen Kern, und nun suche ich die passende Schale dazu; die wird manchmal ganz anders, als der Anlaß gewesen, der mich gerührt hatte, z. B. bei einem unerwarteten Edelmuthe, einem nie gehofften Wiedersehen. Aber die Factoren des psychologischen Momentes, diese müssen wieder ganz so herauskommen, daß sie dasselbe Seelische erzeugen, das sich mir aus einer ähnlich vor sich gegangenen Geschichte ergeben hatte.“
Franz Hoffmann ist noch, wie ich an jedem Weihnachtstische der Buchhändler sehe, am Leben. Vielleicht ist sein Gedächtniß stark genug, mir die Wahrheit dieses Einblickes in das Gemüth eines echten Schulmannes und die schriftstellerische Technik eines berufenen Jugendschriftstellers zu bestätigen.
Die Kindesseele! Das Urgeheimniß im Menschen! Das Paradiesesheiligthum des keimenden geistigen Anfangs! Das war in den fünfziger Jahren fast eine Literaturparole geworden. Alles schrieb Jugenderinnerungen. War doch ein Mann aufgestanden, der geradezu erklärt hatte, die Gottheit ruhe im still bei seinem Spiele träumenden Kinde. Das „Buch der Kindheit“ von Bogumil Goltz führte vom rauschenden Gewühle des Tages, von den erbitterten Kämpfen der Parteien und Meinungen in eine uns umgebende, unmittelbar uns umrankende Märchenwelt zurück. Das Paradies sollte nach ihm in uns selbst liegen, wenn wir nur lauschen wollten auf diese wunderbaren Klänge, die aus der Jugendzeit zu uns herübertönten, sie nur sehen wollten, diese blitzenden Edelsteine einer geistigen Schatzkammer Aladdin’s in uns selbst. Sogar Rückert sollte in seinem Preise der Jugend noch nicht alle Siegel gelöst haben, die auf dem Evangelium der reinen Kindesseele ruhten.
Diesen Prediger der Kindesseele, Bogumil Goltz, hat kürzlich Robert Hamerling in Lindau’s „Gegenwart“ als einen Vertreter des „Pessimismus im Stadium der Tobsucht“ geschildert. Und seine Schilderung ist – wahr, vollkommen zutreffend; nur fehlen noch einige nähere Bezeichnungen, einige tieferliegende Erklärungen.
Es war Märzzeit. Sonnenschein und Hagelschauer wechselten noch. Heute herrschte Zephyr, morgen Boreas unter den Linden von Berlin. Ich wohnte im „Hôtel de Rome“, als ich eines Morgens durch ein heftiges Pochen an meiner Thür aus einer trüben hinbrütenden Stimmung geweckt wurde. Ich hatte gegen ein nicht enden wollendes Sausen im Ohre, das die Hörkraft zu vermindern drohte, die Hülfe des damals berühmten, später von den alle Tage auf neue Systeme kommenden Medicinern bei Seite geschobenen Kramer in Anspruch genommen. Sein Verfahren, eine complicirte Maschine durch die Nase bis nahe an die Hirnhöhlen zu führen und dann einen Aetherdampf operiren zu lassen bis an den Herd des Bewußtseins und das so einige Monate durchgeführt, wie er wollte – es war so abschreckend, daß ich nach sieben- bis achtmaliger Marterprocedur abzureisen beschloß.
Bei diesen Erwägungen mußte ich von dem heftigen Eintreten, der schnarrendscharfen Anrede im ost- oder richtiger westpreußischen Dialekt in allen Nerven erschüttert werden.
„Ich heiße Goltz, bin Gutsbesitzer und möchte Schriftsteller werden. Was rathen Sie? Wie fange ich das an?“
„Wenn Sie etwas Ordentliches geschrieben haben, suchen Sie einen Verleger!“ war meine Antwort. Ich erhob mich und machte ihm Platz, sich an meiner Seite niederzulassen.
„Ich stehe lieber,“ antwortete der schon bejahrte, grauschwarzhaarige Mann, dessen gebräunter Teint einem Südländer hätte angehören können. „Ich muß mich bewegen; das Leben ist mein Tummelplatz. In meiner Jugend war ich in Warschau, in den polnischen Wäldern, im Kriegsgetümmel. Da verschlug mich das Schicksal auf ein Gut, das ich ererbte, das ich selbst verwalten mußte, um es zu retten, mir es zu erhalten. Es liegt bei Thorn in Westpreußen. Lange, lange Jahre habe ich da zugebracht, unter dem Miste, unter Polaken, unter halbem Vieh. Aber im Winter, da schrieb ich. Der ganze Boden in meinem Hause liegt voller Manuscripte. Und nun müssen die endlich heraus. Ich bin bald fünfzig Jahre. Es ist die höchste Zeit.“
„Ihre Landsleute nehmen sich Zeit,“ sagte ich, der mir wahrscheinlichen Verblendung eines Autodidakten ausweichend; „auch Kant war, als er seine Kritik der Urtheilskraft herausgab, schon in den Fünfzigen.“ – – Man hat als Schriftsteller von einiger Stellung Gelegenheit genug, die Narrheit unentdeckter Genies, den Wahn angehender Schriftsteller kennen zu lernen. Noch hielt ich den Mann für überspannt und in einem traurigen Wahne begriffen; denn für jede Gattung Literatur, nach deren etwaiger Cultivirung ich ihn fragte, hatte er auf seinem westpreußischen Hausboden ein Belegstück, ob Komödie oder Tragödie, Roman oder Novelle, gleichviel; sein Lager bewies, er hatte sich in Allem versucht.
Inzwischen, wie Canarienvögel durch lautes Sprechen zum Singen gereizt werden, mußte nun auch ich aufstehen und suchen mit dem heftig auf- und niederschreitenden Manne, der jetzt anfing, Alles, was in der Literatur galt, für durch die Bank miserabel zu erklären, in eine bessere Fühlung zu kommen.
„Eines,“ rief ich ihm zu, als er eine lange Rede zu Ende gesprochen hatte, „Eines steht mir schon fest. Sie sind entweder zu einem katholischen Prälaten oder zu einem Schauspieler geboren.“
„Ich bin lutherisch,“ antwortete der Besuch mit dem Ausdrucke des Erstaunens und stillstehend. „Aber Schauspieler?“ meinte er erröthend. „Ich soll Iffland ähnlich sehen –“
„Diese markanten Züge!“ fuhr ich fort. „Diese plastische Form der Stirn, der Nase, das hervorstehende kraftvolle Kinn! Die umbuschten dunkeln Augen –!“
So zergliederte ich einzeln den Beruf der Natur zur Menschendarstellung, den ich hier antraf, kam aber bei den Augen und einem gewissen unheimlichen Feuer, das aus ihnen blitzte, auf den geborenen Domdechanten, den Inhaber einer Pfründe von zehntausend Thalern, wieder zurück. Der scharfe Königsberger Ei-Laut im Sprechen hatte mir auch die Vorstellung des Mönches Zacharias Werner vor die Sinne gebracht. Ich sah den Verfasser der „Weihe der Kraft“, wie ich mir diesen immer vorgestellt hatte, als derselbe, ein Landsmann von Goltz, eben noch von Iffland, ja von Goethe als möglicher Ersatz für Schiller gefeiert wurde und plötzlich auf die Kanzel der Augustinerkirche in Wien entfloh.
Nach einigen Erzählungen seiner Leistungen als Schauspieler bei Liebhabertheatern lenkte die wundersame Beredsamkeit meines Besuches, sein sprühendes, aber unheimliches, ja unwahres Auge, sein staunenswerthes Talent der Reproduction, des Anschaulichmachens seiner apartesten Stimmungen (in Allem sah ich, auch in der stattlichen Figur, dann wieder einen zweiten Schröder, einen Eckhoff, Iffland, leider mit dem Königsberger Ei!) allmählich wieder ausschließlich in die Jugendsphäre ein. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen vor Jammer, was von ihm über dieses Thema allein auf jenem Boden an der Weichsel läge. Die Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel war nichts dagegen.
„Ueber meine Jugend habe ich Bände geschrieben, Herr! Shakespeare kann von mir lernen. Affen sind’s, wenn die Menschen von Kindern sprechen. Jugendzeit – ha, das ist leicht gesagt, lieber Rückert. Aber sie empfunden haben bis auf das Rasseln der Nüsse im Sacke zu Weihnachten, bis auf den Duft der Aepfel, die auf den Teller unter dem Tannenbaum kommen sollen, ja, den Duft des Tannenbaumes noch jetzt einathmen mit Kindernasen- und ‑seelennerven! Herr Gott im Himmel, wo liegt denn all’ unser Ende im Leben anders als im Anfang! ‚Werdet doch wie die Kinder!‘ hat ja
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_316.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)