Verschiedene: Die Gartenlaube (1876) | |
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sich der Mann erschrocken, setzte sich in derselben Nacht in die Post nach Stuttgart und brachte am anderen Tage die Ferien in der Tasche mit – vierzehn Tage oder drei Wochen früher, als die Studienordnung es mit sich brachte.
Aber so kam ich nun in die nächste Nähe des Revolutionsherdes. Denn Schwenningen, wo ich die Ferien im elterlichen Hause zubrachte, liegt hart an der Grenze Badens. Hier, in Baden, hatten Hecker und Struve ungeduldig die Fahne der Republik aufgesteckt. Ich machte Ausflüge nach Donaueschingen, Villingen, Triberg und fand überall die monarchische Gesinnung fast bis zum letzten Funken erloschen. Alles jubelte Hecker zu als dem großen Befreier von der Tyrannei der Fürsten.
Unterdessen wurden die Wahlen zum Parlamente ausgeschrieben. Ueberall stellten sich die Bewerber um einen Sitz dem Volke persönlich vor, bald in großen Bezirks-, bald in kleineren Gemeindeversammlungen. Vier bis fünf Stunden weit strömten ganze Caravanen nach Spaichingen, wo sämmtliche Bewerber vom Fenster des Rathhauses aus ihre Programme, respective ihre goldenen Berge dem mündigen Volke vortragen sollten. Zuerst sprach Menzel, der Stuttgarter Literat, unter dem Namen des Franzosenfressers bekannt; er redete gelehrt und doctrinär und erzählte ein Langes und Breites vom „vergeblichen Landtag“ und anderen Dingen, die das Volk nicht verstand. Er wurde ausgepfiffen und mußte zurücktreten. Darauf folgte Rapp, ein protestantischer Pfarrer, ein geborener Redner und talentvoller Schriftsteller. Er wurde anfangs gern gehört, als er aber in höchst drastischer Weise auf die Fürsten und ihre Lola Montez zu reden kam, machten ihm die hinter ihm im Rathszimmer stehenden Beamten und andere ordentliche Leute Vorwürfe und versuchten, ihn vom Fenster wegzuziehen, er aber wandte sich an das Volk und rief: „Die Herren da drinnen wollen daß ich nach ihrer Pfeife tanze, ich bin aber ein Pfarrer und darf nicht tanzen.“ Von dem Augenblicke an war er verurtheilt, das fühlte man. Am besonnensten und tüchtigsten sprach Rheinwald, wenn auch in meinen Augen zu reactionär; er erhielt nachher die meisten Stimmen.
So verliefen die langen Frühlingsferien unter politischer Aufregung. An das Examen, das in vier Monaten drohte, dachte man natürlich nicht. Anstatt in den Kirchenvätern zu lesen, übte ich mich im Schießen; anstatt der alt- und neutestamentlichen Exegese trieb ich die Grundrechte des deutschen Volkes. Als wir wieder in Tübingen einrückten, empfing uns das alte Stift mit strenger, vorwurfsvoller Miene. Mann für Mann mußte entweder seinen Austritt nehmen oder die Erklärung unterzeichnen, daß er sich von jetzt an den Ordnungen der Anstalt unterwerfen wolle. Alle thaten das Letztere, aber der Sturm, der einmal in die Zeit gefahren war, konnte so rasch nicht aus den jungen Köpfen getrieben werden.
Gleich in den ersten Tagen setzte ich eine Adresse an die Oberbehörde auf, in welcher nichts Geringeres verlangt wurde, als die Aufhebung des Stifts. Das sei ein gemeinschädliches Institut. Es locke Unzählige, die keinen inneren Beruf zur Theologie haben, zu dieser heran durch die materiellen Vortheile, die es biete, und erzeuge Dummköpfe oder Heuchler, und diejenigen, welche das Räthsel der Sphinx gelöst und den Muth haben, die gefundene Lösung auszusprechen, entlasse es untüchtig für die Kirche. Es sperre die Theologie von dem Strom des allgemeinen Geisteslebens ab in ein engbegrenztes Haus und bilde gedrückte, eckige, unpraktische Leute – und wie diese Dinge alle hießen. Und wirklich – der größere Theil der Zöglinge zeigte sich bereit, die seltsame Adresse zu unterzeichnen, bis es der Beredsamkeit eines Repetenten, Namens Lechler, gelang, Viele einzuschüchtern und zurückzuschrecken.
Ging es aber im stillen Hause der Studien so lebhaft her, so war draußen die Bewegung nicht geringer. Es hatte sich ein Bürgerverein gebildet, welcher alle die Aufgaben, welche dem engeren und dem weiteren Vaterlande erwuchsen, an die Hand nahm. Alles strömte herbei vom ärmsten Weingärtner bis zum höchsten Staatsbeamten. Die Leitung war in den Händen von Professoren und Studenten. Der Geist war der eines gemäßigten Freisinns. Eines Abends mitten im dichtesten Gedränge, als eben ein Redner die republikanische Bewegung in Baden schmähte, murmelte ich ein Wort des Unmuthes vor mich hin. Man ruft: der Mann soll uns von der Tribüne herab sagen, was er weiß. Schüchtern, weil ungewohnt, in öffentlicher Versammlung zu sprechen, wehre ich mich, aber ich werde durch das Gedränge hindurch halb gestoßen, halb getragen. Nun schildere ich zuerst, was ich auf meinen Streifzügen in Baden gesehen und gehört hatte, und entwerfe sodann mit kecken Zügen ein Programm der Politik. Das Parlament in Frankfurt wähle vor allen Dingen einen General und stelle das Militär sämmtlicher deutschen Staaten unter seinen Oberbefehl. So im Besitze der Macht, entwerfe es die deutsche Verfassung, und diese könne nur die Republik sein, welche allein die Einheit und Kraft des Ganzen mit der nöthigen Selbstständigkeit der einzelnen Glieder und Stämme zu verbinden im Stande sei. Nun furchtbare Bewegung im Saale! Indignation von der einen, Zujauchzen von der anderen Seite. Der allgemeine Tumult übertönt die Glocke des Präsidiums. Dieses nimmt den Hut und verläßt den Saal, ihm nach die Gleichgesinnten, etwa die Hälfte der Versammlung. Als das Strömen und Laufen aufgehört hatte, lade ich die Anwesenden zur Gründung eines neuen, demokratischen Vereins ein; er constituirt sich sofort und einige Bogen füllen sich mit Beitrittserklärungen.
Das war denn doch selbst für jene Zeit zu arg. Ein Theolog an der Schwelle des Examens, ein Stiftler, der Zögling einer Staatsanstalt, welche eine Stiftung des Fürstenhauses war – und Leiter eines demokratischen Vereins, der auf den Sturz des Fürstenhauses ausging! Von Stuttgart kam nach einigen Tagen die Weisung: Candidat L. verlasse entweder das Stift oder trete von der Leitung des demokratischen Vereins zurück! Ich erklärte mich zum letzteren sogleich bereit und kündigte sofort im Blatt die Auflösung des Vereins an, aber nur, um ihn am gleichen Abend unter dem Titel „Volksverein“ mit unveränderten Statuten wieder zu sammeln. Ich ging zu Professor Baur, der Mitglied des Stiftsinspectorates war, und fragte, ob man auch so gegen mich einschreiten werde? „Bitte, schweigen Sie von der Sache! Wir sind dieser Dinge überdrüssig.“ So leitete ich den Verein den ganzen Sommer mit ziemlichem Geräusch, und kein Hahn krähte darnach. Unter allem Schwindel, der natürlich mitlief, machte ich damals die Erfahrung, daß der Mensch wächst mit seinen Zwecken, daß man in großen Zeiten Gaben erhält, von welchen man in kleinen selbst keine Ahnung hat, daß, wer von einer großen Idee ganz erfüllt ist, das Unmöglichscheinende leistet. Ich arbeitete nach allen Seiten; es ging Alles so leicht und mühelos von Statten; ich that das Nöthige für das Examen, hielt täglich Vorträge, schrieb Artikel für unser Zeitungsblatt, verfaßte Aufrufe, Adressen dahin und dorthin, schlief nur wenig und befand mich niemals wohler und gesünder, als in jener Zeit.
Gegen Ende August war das Examen; es lief gut ab. Aber was nun? Als die Ergebnisse der Prüfung in der Aula verkündigt waren und in einem Nebenzimmer Jeder auf einem bereit liegenden Bogen einzutragen hatte, was er in der nächsten Zeit treiben und wo er sich aufhalten werde, da fühlte ich mich gar verlassen und einsam. Ich hätte mit Luther, als ihn der Cardinal fragte: „wo willst Du bleiben, wenn der Papst Dich in den Bann thut?“ nur antworten können: „unter dem Himmel.“ Ich wußte nicht wohin und konnte mir auch nicht denken, wo mich Jemand brauchen könnte. Wenn wieder so ein Trupp freudvoll und leidvoll, unter Küssen und Händedrücken abzog und man das alte Burschenlied sang:
„Bemooster Bursche, zieh ich aus,
Behüt dich Gott, Philisterhaus!
Zur neuen Heimath zieh’ ich ein,
Muß selber nun Philister sein“ –
da fiel mir die ganze Schwere des ungewissen Menschenlooses auf’s Herz; eine neue Heimath kannt’ ich nicht, und zum Philister fehlte mir noch ganz die Stimmung. Ich hätte dieses sorgenlose Leben mit all den Anregungen für Geist und Gemüth so gern noch fortgetrieben; ich hätte noch recht lange baden mögen in diesem Strome freier zweckloser Wissenschaft; ich konnte den Gedanken nicht ertragen, auf immer scheiden zu müssen von der lieben Musenstadt, die mir in jeder Beziehung eine alma mater gewesen war, von diesen reizenden Hügeln und Thälern, die mir so vertraut geworden waren.
Ich beschloß, vorläufig die Ferien über noch zu bleiben, und bezog die vacante Stube eines Freundes gegenüber der
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_324.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)