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Seite:Die Gartenlaube (1876) 325.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Hölle“ mit der herrlichsten Aussicht auf das Neckarthal und die Hügel der schwäbischen Alb. Zum ersten Male empfand ich die Wonne, mich von der Traulichkeit einer eigenen Stube umfangen zu sehen und die Stunden durch keine Seminarglocke mir bestimmen zu lassen. Ich besorgte die Museumsgeschäfte fort, studirte Zeller’s „Geschichte der griechischen Philosophie“ und widmete die Abende der Politik.

In diese Zeit fielen zwei Ereignisse, die über mein künftiges Schicksal entscheiden sollten. Eines Morgens berief mich der Fabrikant Rau von Gaildorf, ein Hauptwühler im Lande, auf die Post. Kaum saßen wir zusammen, so trat der Polizeidirector Meier, Policen-Meier genannt, herein und setzte sich in einiger Entfernung von uns zu einem Glase Wein. Da man damals keine Polizei fürchtete, theilte mir Rau seinen Plan mit. Er wollte das württembergische Oberland von Tuttlingen an revolutioniren, von Dorf zu Dorf Zuzug sammeln und mit ungeheuren Massen gegen Stuttgart ziehen. Hier werde im geeigneten Augenblicke die Republik ausgerufen; Alles sei bereit, der Revolutionsplan von der Stuttgarter Demokratie bis in’s Einzelne entworfen, die Straßen für Aufwerfung der Barricaden bezeichnet etc. Ich erhob Bedenken gegen den Plan, der mir abenteuerlich klang und schwindelhaft schien, aber Rau reiste in blindem Vertrauen auf den Sieg vorwärts in sein Verderben. Ich bestieg sogleich die Post nach Stuttgart, kam dort gerade zu einer imposanten Volksversammlung an, die aber durch die Schuld der Redner kläglich ablief – man merkte ihren Worten die Furcht vor der Polizei an –, und traf dann Abends die Führer der Rauischen Bewegung in einer behaglichen Bierstimmung in einem Wirthslocale draußen vor der Stadt. Ich wußte nun, was ich zu thun hatte. Die Stürmer in Tübingen brachte ich durch meine Schilderung der Situation zur Ruhe, einen Studenten der Theologie, Namens Weihenmeyer, der ausgereist war, um die Gegenden von Reutlingen bis Plochingen aufzuwiegeln, ließ ich durch zwei Freunde, die ich ihm nachschickte, festnehmen, und als der Landtagsabgeordnete Nagel von Balingen in höchster Eile angefahren kam und anfragte, wie wir in Tübingen uns zu verhalten gedenken, Rau sei mit sechshundert Mann in Balingen eingezogen und es sei große Neigung vorhanden, sich ihm anzuschließen, da bat ich ihn, heimzueilen und seine Mitbürger von dem wahnsinnigen Unternehmen zurückzuhalten. Ich fühlte mich ordentlich, der Retter des Vaterlandes zu sein. Ach! wenn das der König wüßt’? Einen Orden glaubt’ ich mindestens verdient zu haben.

Bald darauf kam die erste Reutlinger Volksversammlung. Der Tübinger Volksverein hatte mich zum Sprecher bestimmt. Auf einer Wiese sammelte sich eine unabsehbare Menschenmenge. Auf der Terrasse eines Landhauses waren die Redner aufgestellt. Professor Kapff (Käryx genannt) eröffnete die Versammlung mit einer kernigen und gediegenen Rede und verlangte von ihr ein Mißtrauensvotum gegen die Rechte des Frankfurter Parlaments und eine Zustimmung zu dem Vorgehen der Linken. Allgemeiner Applaus: angenommen! Damit war ich nun aber gar nicht zufrieden. In scharfer Rede kritisirte ich die ganze bisherige Thätigkeit des Parlaments; die Rechte und das Centrum und die Linke seien in gleicher Verdammniß; es seien Schönredner und Doctrinäre, die unter endlosen Reden über allgemeine Grundsätze die Zeit zum Handeln und Organisiren verpaßt und der fürstlichen Reaction Zeit zum Aufathmen gegeben haben. Das Parlament müsse abberufen und Neuwahlen ausgeschrieben werden, aus ihnen werde friedlich und groß die deutsche Republik hervorgehen, deren Bild nun in glänzenden Farben entworfen wurde. Während ich so von der Tribüne herunter sprach, oft unterbrochen von einem nicht enden wollenden Jubel, vertheilte unten wieder ein junger Theologe, Namens Schuster, die berühmte perikleische Rede über die Herrlichkeit des athenischen Freistaates, die wir aus „Thucydides“ übersetzt und als Flugblatt gedruckt hatten, unter die Bauern und Handwerker, die natürlich Nichts davon verstanden. Die Menge war rasend vor Freude; die Mützen fuhren unter endlosem Halloh in die Luft; ein Amerikaner stürzte auf die Bühne und umarmte mich vor allem Volke. Höher konnte der Rausch nicht mehr steigen und zu dämpfen war er nicht mehr. Die Versammlung war zu Ende; man zerstreute sich wieder. Abends hörten Baur und Zeller, welcher Letztere als Baur’s Tochtermann auf Besuch in Tübingen war, durch die geöffnete Thür der „Hölle“ einem Ständchen zu, das mir die Tübinger Demokratie brachte.

Zwei Tage darauf gab der „Schwäbische Merkur“ den Hauptinhalt meiner Rede mit dem deutlichen Fingerzeig wieder, daß man solche gefährliche Leute eigentlich hinter Schloß und Riegel setzen sollte. Die erschrockenen Eltern, die auf diesem Wege die erste Kunde von meiner politischen Thätigkeit erhielten, schickten sogleich meinen Bruder Theodor ab, um mir ernstlich an’s Herz zu reden. Als sein schwerer Tritt in der Morgenfrühe die Treppe heraufkam – ich lag noch im Bette – dachte ich einen Augenblick: „Wenn es die Polizei wäre, die dich verhaften will!“ Närrischer Gedanke! Was ich gesagt und gethan hatte, das hatten bis dahin tausend Andere auf Straßen, in Parlamenten, in Volksversammlungen, in der Presse gesagt und gethan. Die volle Redefreiheit war garantirt und bisher beschützt worden. Stand ich nicht mit dem Policenmeier auf dem besten Fuße und hatte mit ihm beim Glase Wein oft und viel politisirt? Und sollte mein noch so junges Verdienst um die Rettung des Vaterlandes schon vergessen sein? Und doch war die Furcht nicht ohne Grund. Seit der Rau’schen Schilderhebung war eine merkliche Wendung in dem Verhalten der Staatsgewalt, ja auch in der öffentlichen Meinung eingetreten. Was vorher als unschuldig hingegangen war, wurde jetzt notirt. Doch blieb ich arglos und lachte der Gefahr.

Als zwei befreundete Abgeordnete der Ständekammer, Stockmaier und Pfäfflin, in Landtagsgeschäften nach Tübingen kamen, luden sie mich ein, mit ihnen nach Stuttgart zu fahren; wenn Gefahr drohe, wollten sie mich unter dem Mantel ihres Mandats verbergen. Ich ging fröhlich mit, logirte im Hause von Verwandten, deren streng loyale und monarchische Gesinnung mir Schutz gewährte, und bewegte mich harmlos im Strudel des Cannstatter Volksfestes, das alljährlich am Tage nach der Geburtstagsfeier des Königs, am 28. September, abgehalten wurde. Aber je länger, je weniger behagte mir die Luft. „Was? Du bist da?“ begrüßten mich viele Bekannte verwundert. Es war mir bald, wie wenn ich von Spionen umgeben wäre. Guckte Jemand durch ein Opernglas, so meinte ich, es sei auf mich gerichtet. Da galt kein Zögern mehr. Ich nahm rasch ein Postbillet nach Hause, und richtig! eine Stunde nach meiner Abfahrt erschien die Polizei im Hause der Verwandten, um nach mir zu fragen. In Tübingen benutzte ich die Haltestunde, Nachts zwölf bis ein Uhr, um auf mein Zimmer zu eilen, einige Sachen zu ordnen und auf den Tisch ein Billet an einen Freund zu legen, der mir meine Habseligkeiten nachschicken sollte. Zu Hause wurde ich herzlich willkommen geheißen; kein Wort des Vorwurfs oder Tadels entschlüpfte den Lippen der guten Eltern, doch merkte ich ihnen wohl an, wie schwer es auf ihnen lag.

Lange sollte mir die Rast im elterlichen Hause nicht gestattet sein. Am folgenden Morgen kam mit demselben Postzuge, der mich gestern gebracht hatte, ein Bote von Tübingen mit der Nachricht, daß in der letzten Nacht die Polizei mir an der Post aufgepaßt, weil sie mich von Stuttgart her erwartet habe; es hätte freilich keine Noth gehabt, denn der Volksverein sei in großer Zahl bewaffnet in einer Nebenstraße zu meinem Schutze aufgestellt gewesen, aber weit weg vom Geschütz mache doch langes Leben. Was war da zu thun? Ich bat den Vater um zwei Kronthaler, packte in eine Botanisirbüchse eine Pistole und ein paar Hemden und nahm in derselben Stunde den Weg nach der Schweiz. „Leb’ wohl, mein Heimathland! auf ewig lebe wohl!“[1]


  1. Mit diesen zwei Kronthalern hat Lang, der in Deutschland niemals wieder dauernd gewirkt hat, seine später mit so vielen Ehren fortgesetzte und abgeschlossene Laufbahn in der Schweiz begonnen, auch ein Beweis für die seltene Thatkraft, welche diesem mannhaften Streiter innewohnte.
    D. Red.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_325.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
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